Die Berge der griechischen Götter

Von Karin Moser (Tübingen)

In der Folge der großen ägäischen Wanderungsbewegungen gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr., unter denen die Großreiche der Hethiter in Anatolien und der Mykener in Griechenland zugrunde gingen, in welcher Zeit Troja fiel, gerieten auch Griechenstämme aus dem Nordwesten ( Thrakien, Epiros ) in Bewegung und gelangten bis in die Ebene von Elis, die Ebene von Olympia auf der Peloponnes. Um die Jahrtausendwende begannen die Eleier ihren aus dem Norden mitgebrachten Stammesgott ZEUS am Fluße Alpheios zu verehren. Wie für Herdenbesitzer – schon seit Jahrtausenden – üblich, war dieser oberste Gott ein Himmels- und Wettergott. Auch er entthronte in Olympia ( wie APOLLON in Delphi ) eine ältere weibliche Gottheit, die Erdgöttin Gaia oder Ge, der dieser heilige Ort, die Altis, vor der Ankunft des ZEUS geweiht war. Im Jahr 776 v. Chr. begann mit der ersten Siegeraufzeichnung der Olympischen Spiele die Ära der Olympiaden. In den dazwischenliegenden Jahrhunderten hatten die Griechen von den Phöniziern das Alphabet übernommen. Homer und Hesiod verfassten ihre Epen: ‚Ilias‘, ‚Odyssee‘ und ‚Theogonie‘, und gaben – nach einem berühmt gewordenen Wort Hegels – den Griechen erst eigentlich ihre Götter.

Der Name des ZEUS leitet sich von der idg. Wurzel div- ab, was soviel wie „Himmel“ bedeutet. Den Ausgangspunkt seiner Verehrung in Griechenland bildete die Vorstellung eines Berg- und Wettergottes. Man dachte sich, dass er auf einem der höheren Berge Griechenlands, dem Olymp, Ida, Helikon oder dem Berg der Insel Ägina, sitze und Wolken sammle, um aus ihnen Regen und Schnee, Blitz und Donner auf die Erde zu senden. Mit diesem im griechischen Raum mehrfach bezeugten Wettergott verband sich offenbar der von den einwandernden Nordwestgriechen mitgebrachte indogermanische Himmelsgott zu dem uns bekannten homerischen Olympier. Denn nach dem höchsten griechischen Berg, dem Olympos, nannten sich nun die neuen, die jungen griechischen Götter, nachdem sie die älteren ursprünglichen Gottheiten, die Titanen, entthront und gestürzt hatten.

Das Massiv des OLYMP ist die höchste Gebirgskette Griechenlands, hauptsächlich in der Landschaft Thessalien, ein Teil in Makedonien gelegen. Hesiod erzählt in seiner ‚Theogonie‘ vom Ursprung der Götter:

„Zuerst entstand das Chaos. Danach entstand Gaia, mit breiten Brüsten, der feste und ewige Sitz von allen Gottheiten, die hoch oben, auf dem Berg Olymp wohnen, oder in ihr selbst, in der Erde, und Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, der die Glieder löst und den Geist aller Götter und Menschen beherrscht. Vom Chaos stammt das Erebos her, die lichtlose Dunkelheit der Tiefen, und Nyx, die Nacht. Nyx gebar den Aither, das Himmelslicht, und Hemera, den Tag, sich mit dem Erebos in Liebe vermischend. Gaia aber gebar vor allem, als ihr gleichen, den gestirnten Himmel, Uranos, damit er sie völlig umfange und fester und ewiger Sitz sei den seligen Göttern. Sie gebar die großen Gebirge, in deren Tälern so gerne Göttinnen wohnen: die Nymphen“ [aus: Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen].

Es gibt einen niederen und einen hohen Olymp. Die Hauptgipfel der Zentralgruppe heißen Mytikas [ die ‚Spitze‘, ‚Nase‘ = míti ] ( 2917m ), Skolion [ der ‚Krumme‘, ‚Gebogene‘, ‚Schiefe‘ = skoliós ] ( 2912m ), Skala [ ‚Treppe‘, ‚Leiter‘ = skála ] ( 2866m ) und Olympos [ vorgr.: ‚Berg‘? ] ( 2911m ). Südlich, zwischen Olymp und Ossa ( 1978m ), liegt das berühmte Tempe-Tal, eine ca. 10 km lange, teilweise sehr enge Schlucht. Von hier aus führt der Peneios von der thessalischen Ebene zum Meer. Der Überlieferung nach soll die Schlucht entweder von Poseidon Petraios gespalten oder aber durch ein Erdbeben entstanden sein. Weiterhin heißt es, APOLLON habe sich hier nach der Tötung des Python-Drachens mit den Wassern des Peneios gereinigt. Im Tempe-Tal befand sich einst ein Apollonheiligtum.

Der Olymp galt als Sitz der olympischen Götter. Von dort herab schleuderte ZEUS seine Blitze. Hier stand die Tafel der Götter, an der der hinkende Hephaist und der Zeusliebling Ganymed als Mundschenke dienten und an der einst auch Sterbliche wie Tantalos speisen durften, der Vater des Pelops und der Niobe, deren tragische Geschichten wir bis hinab zu Orest und Iphigenie kennen. Als „Vater der Götter und Menschen“ stand ZEUS an der Spitze des olympischen Dodekátheons, der Zwölfgötter: Zeus, Hera, Poseidon, Demeter, Apollon, Artemis, Ares, Aphrodite, Hermes, Athena, Hephaistos, Hestia. Manchmal erscheint DIONYSOS als Ersatz für die Göttin des häuslichen Herdes, Hestia. Mit Leto wird ZEUS Vater des Zwillingspaars APOLLON und Artemis, mit Semele des DIONYSOS, mit Mnemosyne der neun MUSEN.

[ Es gab übrigens auch einen Olymp in Kleinasien, den 2543 m hohen Olympos an der Grenze zwischen den Landschaften Mysien im Süden und Bithynien im Norden (heute türk.: Uludagh). Außerdem ist Olympos der Name eines sagenhaften griechischen Musikers (um 750 v. Chr.) aus Mysien oder Phrygien; er war Symbol für das Eindringen der kleinasiatischen Musik nach Griechenland und Begründer des solitischen Aulosspiels und der älteren Enharmonik. ]

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Mit APOLLON und den MUSEN wenden wir uns dem zweiten berühmten Gebirge Griechenlands zu: dem PARNASS. In der Landschaft Phokis gelegen, steigt der Parnass, einer der majestätischsten Berge Griechenlands, mit seinem Hauptgipfel Liakoúra [ der ‚äußerst Ermüdende, Anstrengende‘ = lían; kourázo, kourasménos ] bis zu einer Höhe von 2459 m auf. Von dort aus sieht man gen Nordwesten die Gebirgskette des Pindos, im Norden den Pelion [ pélion = ‚wilde Taube‘ ], Ossa [ óssesthai = ‚blicken‘, ’schauen‘ ] und Olymp, im Nordosten den heiligen Berg Athos im Meer, die Sporaden und Euböa, im Südosten den Helikon, Attika und die Kykladen, im Süden den Golf von Korinth und die Berge der Peloponnes bis hin zum Taygetos. Im Westen verstellen die Berge von Lokris den Blick in die Ferne.

Am Fuß des Parnass liegt die Orakelstätte des Gottes APOLLON: Delphi. Doch der Berg gehörte nicht nur diesem Gott allein. APOLLON teilte ihn, insbesondere zu bestimmten Jahreszeiten, mit seinem Widersacher und Widerpart: DIONYSOS. Im Parnass-Massiv, etwa zweieinhalb Stunden Fußmarsch von Delphi entfernt, liegt die von Pausanias mit Begeisterung geschilderte Korykische Grotte, die dem Gott PAN, den Nymphen und Thyiaden geweiht war. Die Thyiaden waren Frauen aus Attika, Delphi und Böotien, die, mit Tierfellen bekleidet, Thyrsosstäbe und Fackeln schwingend, jedes zweite Jahr ihre rauschhaften Feste zu Ehren des Gottes DIONYSOS feierten. Man nennt sie auch Mänaden, die Rasenden, von der Manía des Gottes Ergriffenen. APOLLON und DIONYSOS sind so beide mit dem Parnass verbunden; beide, so unterschiedlich in ihren Erscheinungsweisen: der Lichtgott und der Weingott; der Gott der hellenischen Klarheit, Ordnung und Vernunft und der Gott der Trunkenheit, der Manía und des Enthousiasmós; der Gott, der die MUSEN zu den Klängen der Kithara anführt, und der Gott, der sein Gefolge von Satyrn und Mänaden durch den schrillen Ton des Aulos, der Doppelflöte, und das Dröhnen der Becken, Trommeln und Tamburine mitreißt. Während APOLLON bei den Hyperboreern im Norden weilt, übernimmt alljährlich DIONYSOS für die Wintermonate das Heiligtum. „Und siehe“, sagte Nietzsche in der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘, „Apollon konnte nicht ohne Dionysos leben“: Das Traumhafte nicht ohne das Rauschhafte; die Klarheit nicht ohne die Verwirrung.

Auch die Kultstätte von Delphi am Fuß des Parnass, den Erdspalt und die heilige Quelle der Kastalia zwischen den berühmten beiden Phädriaden-Felsen [ die ‚Heiteren‘, ‚Leuchtenden‘ = phaidrós, phaínomai ] hatte einst eine weibliche Erdgottheit innegehabt, bevor der junge, strahlende Gott APOLLON kam, den Python-Drachen tötete, Sinnbild des chthonischen, erdhaften weiblichen Elements, und das Heiligtum in Besitz nahm. APOLLON Pythios – der Drachentöter. APOLLON Musagetes – der Musenführer.

Das kristallklare Wasser der Kastalischen Quelle diente der rituellen Reinigung im Apollontempel. So wurde es auch von der Pythia, der Orakelpriesterin von Delphi, deren Sprüche jahrhundertelang die Weltgeschichte der klassischen Antike bestimmten, zur Reinigung verwendet. Die Quelle selbst galt als Lieblingsaufenthalt APOLLONS und der MUSEN.

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Der Kult der MUSEN, zuerst Gottheiten der Berge und der Bergquellen, war ursprünglich ein Hirtenkult aus dem Norden. Er wurde in Piërien am Olymp geboren, in jenem thrakischen Gebiet am Helikon-Fluß, aus dem die sagenhaften Dichter und Sänger Linos, Orpheus und Musaios stammten. Man vermutet, dass ‚Musa‘ ( ein ungriechisches Wort ) eine thrakische Göttin war, die einfach ‚Bergfrau‘ genannt wurde. Eine thrakische Kolonie siedelte sich sodann in Askra in Böotien an, verlieh Bergen und Flüssen in der Umgebung heimatlich vertraute Namen und übte hier den ursprünglich thrakischen Kult aus. Das Heiligtum des böotischen Helikon fiel nach der Zerstörung von Askra unter die Herrschaft der Thespier und wurde zu einem Zentrum poetischer Inspiration. Hier erfuhr der Epiker Hesiod seine berühmtgewordene ‚Musenweihe‘. Hier befand sich auch die Hippukrene-Quelle, die berühmte Quelle der Dichter [ wörtl.: die ‚Pferdequelle‘ ], die Pegasos durch einen Hufschlag entspringen ließ.

Die schon im Epos ( Homer, Hesiod ) bekannten Namen der neun MUSEN wurden später mit verschiedenen Funktionen verbunden, die den gesamten Kreis der bei den Griechen als musisch geltenden Künste umfassten: Erató mit der Lyrik, insbesondere der Liebeslyrik, Euterpe mit der vom Flötenspiel begleiteten lyrischen Poesie, Kalliope, die Schönäugige, mit epischer Dichtung und den Wissenschaften, Klio mit der Geschichtsschreibung, Melpomene mit Gesang und Tragödie, Polyhymnia mit dem ernsten, instrumental begleiteten Gesang, Terpsichore mit dem Tanz, Thaleia mit der Komödie und Urania mit der Astronomie. Mnemosyne, die Mutter der MUSEN, war die Göttin des Gedächtnisses, der Erinnerung. Auf der weißgrundigen Lekythos des Achilleus-Malers sitzt eine MUSE auf einem Felsen, der durch eine Inschrift als Helikon gekennzeichnet ist. Zu ihren Füßen sitzt ein Vogel, eine Nachtigall, die den MUSEN geheiligt war. Vor ihr steht eine zweite MUSE, die dem Saitenspiel ihrer Schwester lauscht. [ Die andere Inschrift ist eine sog. Kalós-Inschrift ].

Der HELIKON, der Musenberg, liegt auf dem Weg von Delphi nach Theben südlich von Levadia und erhebt sich bis zu einer Höhe von 1749 m. Im Namen Helikón klingt möglicherweise Helios, die Sonne oder der Sonnengott, an, den die Orphiker mit APOLLON gleichsetzten.

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Fährt man von Böotien weiter in Richtung Athen, stößt man dort auf die drei berühmten attischen Berge: den Parnes ( 1419m ), den Pentelikon [ pént‘ = ‚5‘, helikón ] ( 1109m ) und den Hymettos [ hymen = ‚Hochzeit(sgott)‘ ] ( 1026m ). Der Gipfel des HYMETTOS, östlich oder leicht südöstlich von Athen, trug einst die Statue des ZEUS Hymettos. Früher war der Berg mit aromatischen Kräutern bewachsen. Der süße, duftende Hymettos-Honig war berühmt in der ganzen griechischen Welt; wobei die Biene einerseits zu APOLLON gehörte, andererseits unter dem Zauber des Gottes DIONYSOS Milch und Honig aus der Natur flossen. Vielleicht steht der Name Hyméttos in Zusammenhang mit Hymen oder Hymenaios, dem griechischen Hochzeitsgott ( und Hochzeitsgesang ), entweder einem Sohn des DIONYSOS und der APHRODITE oder aber des APOLLON und einer der MUSEN ( der Kalliope oder der Urania; hier gibt es unterschiedliche Versionen ).

Nordöstlich Athens liegt der Pendeli oder PENTELIKON, der attische Marmorberg. Hier wurden seit 570 v. Chr. die Marmorbrüche ausgebeutet, die die hymettischen ablösten. Pentelischer Marmor wurde vor allem unter Perikles für die Neubauten auf der Athener Akropolis, den Parthenon und die Propyläen, verwendet. Über den Pendeli lief im Jahr 490 v. Chr., nach dem Ende der Schlacht in der Ebene von Marathon, der berühmt gewordene griechische Bote, der den Athenern die Nachricht vom Sieg des griechischen Heeres über die persische Übermacht bringen sollte. Er lief die ganze ‚marathonische‘ Strecke von 42,195 m im Dauerlauf und brach mit dem Ausruf „Enneníkamen!“ – „Wir haben gesiegt!“ tot zusammen.

Über den Parnes kenne ich keine antiken mythologischen Geschichten.

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Zuletzt soll unser Blick noch auf die Peloponnes in eine bergige Landschaft gehen, die uns eher als Ganzes, nicht so sehr als einzelner Berg bekannt ist: Arkadien. – „Et in Arcadia ego.“

Die Landschaft Arkadien liegt in der Zentralpeloponnes, südöstlich von Olympia. Obwohl mehr die arkadische Landschaft als solche und deren Gott PAN in die Literatur eingegangen sind, gibt es auch dort einen berühmten Berg, den LYKÄON ( 1419m ). Seine Lage über dem tiefen Alpheios-Tal ist von großer Schönheit. Dennoch ist die Stätte alles andere als idyllisch, sondern ein Ort ganz besonderer Grausamkeit. Der Berg verdankt seinen Namen dem mythischen König Lykaion von Arkadien. Lykaion war ein Sohn des Pelasgos und einer Okeanide ( Tochter des Weltenstroms Okeanos ). Er hatte 50 Söhne und eine Tochter. Als ZEUS in Menschengestalt die Erde besuchte, um die Menschheit zu prüfen, setzte ihm Lykaion das Fleisch eines geschlachteten Knaben zum Mahl vor. Daraufhin vernichtete ZEUS Lykaion samt seiner ganzen Nachkommenschaft mit seinem Blitz. Nach einer anderen Version wurde Lykaion in einen Wolf [ lykos = ‚Wolf‘, lykeios ] verwandelt. Über die entartete Menschheit sandte ZEUS sodann die große Deukalionische Flut. Der Lykaion-Mythos stellt wahrscheinlich eine Verbindung einer – möglicherweise vorgriechischen – Werwolferzählung mit einem Aition für den grausigen Brauch von Menschenopfern zu Ehren des ZEUS Lykaios dar. Auf dem Lykäon, dem Wolfsberg, in Arkadien wurden ZEUS Lykaios in alten Zeiten Menschenopfer dargebracht. Diese Grausamkeit, die so gar nicht hellenisch, sondern barbarisch anmutet, die so ungriechisch und ‚unarkadisch‘ wie nur möglich ist, gehört ebenso in diese Landschaft, wie das viel später zum Idyll verklärte Arkadien mit seinem Gott PAN.

Der griechische Wald- und Weidegott PAN war ein Sohn des Hermes und einer Nymphe. Zum Entsetzen der Mutter war der kleine PAN am ganzen Körper behaart, hatte Ziegenhörner und Ziegenhufe. Hermes brachte ihn in den Olymp, wo die versammelten Götter, besonders DIONYSOS, ihre Freude an dem Kleinen hatten. Als Bockswesen gehört er so wie die Satyrn und Silene zum Gefolge des DIONYSOS.

In Griechenland war die Mittagsstunde – nicht die gespenstische Mitternacht des Nordens – die Stunde des PAN. Zu dieser Zeit der sommerlichen Mittagsstille konnte der Gott urplötzlich zwischen den Herden in Erscheinung treten und diese in panischen Schrecken versetzen. Die Athener schrieben die Flucht des Perserheeres in der Schacht von Marathon der Hilfe des PAN zu, der urplötzlich unter ihnen erschienen sei. Daraufhin wurde in Attika der Kult des Gottes eingeführt. Das PAN-Heiligtum in Athen befand sich in einer Grotte auf der Nordseite der Akropolis. In philosophisch-mystischer Auffassung galt PAN als der Allgott [ pân = all(es) ]. Häufig wurde PAN zusammen mit den Nymphen in einem Heiligtum verehrt, wie in der oben genannten Korykischen Grotte im Parnass.

Ein anderes Nymphenheiligtum in Athen befand sich am Fluß Ilissos und wurde durch den platonischen Dialog ‚Phairos‘ berühmt. Phaidros führt nämlich den Sokrates an diesem Fluß entlang, oder besser aufgrund der Hitze durch diesen hindurch, bis zu einer prächtig belaubten Platane, unter der eine klare Quelle entsprang und wo sich ein Heiligtum des PAN, der Nymphen und des Flußgottes Acheloos befand. Ein wahrhaft idyllisch beschriebener Ort, den Sokrates durchaus zu schätzen weiß, obwohl er zugibt: „Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt“ ( Phaidr. 230d ). Dort nun, bei der Quelle und dem Heiligtum der Nymphen, spielt der berühmte Dialog ‚Phaidros‘, dessen erster Teil sich bekanntlich mit der Liebe und den Wirkungen des Verliebtseins beschäftigt.

In einem anderen platonischen Dialog findet sich ein bemerkenswerter Reflex des griechischen Verhältnisses zur Landschaftsdarstellung in der Malerei, nahezu der einzige in der gesamten klassisch-griechischen Überlieferung. Die Textstelle steht ziemlich am Beginn des ebenfalls bekannten Dialogs ‚Kritias‘, in dem dann später vor allem die Sage von Atlantis geschildert wird. Dort heißt es ( Kr. 107c-d ) nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher:

„Betrachten wir aber die Kunst der Maler in der Nachbildung göttlicher und menschlicher Gestalten, inwiefern es ihnen leicht oder schwer wird, den Beschauenden durch ihre Nachahmung zu genügen, so werden wir sehen, daß wir erstens bei der Erde, den Bergen, den Flüssen, den Wäldern, dem ganzen Himmel und allem, was an ihm sich findet und bewegt, zufrieden sind, hat jemandes Nachbildung nur einige Ähnlichkeit mit diesen Gegenständen, sowie, daß wir außerdem, da wir von dergleichen Dingen keine genaue Kenntnis besitzen, das Gemalte weder prüfen noch streng beurteilen und mit einem ungenauen und täuschenden Schattenumriß uns begnügen; versucht es dagegen einer, unsere eigenen Gestalten abzubilden, dann werden wir, vermöge der ständig uns beiwohnenden Beobachtung das Mangelhafte scharfsichtig wahrnehmend, zu strengen Richtern desjenigen, welcher nicht durchaus alle Ähnlichkeiten wiedergibt.“

Erde, Berge, Flüsse, Wälder und Himmel waren Aufenthaltsorte der Götter. Die Griechen der klassischen Zeit wären kaum auf den Gedanken gekommen, etwa den Olymp zu besteigen. Auf dem Parnass folgten die Thyiaden allein dem Gott DIONYSOS. Es bedurfte einer sehr langen Zeit, bis im Abendland ein Mensch auf die Idee kam, einen Berg nur aus dem Grund zu besteigen, um von oben auf die Welt herabzuschauen ( „sola videndi insignem loci altitudinem cupiditate ductus“ ). Dieser Mensch war der italienische Dichter Petrarca, der Berg der Mont Ventoux in der französischen Provence und die Zeit das Jahr 1336. Diese berühmt gewordene, legendäre Besteigung des Mont Ventoux, des ‚Windigen‘, durch Petrarca wurde zu einem der Initiale der italienischen Renaissance. Der Blick von oben herab auf das Panorama der diesseitigen Welt führte wenig später sozusagen zur Entdeckung der Zentralperspektive.

Die Berge der griechischen Götter hingegen – Olymp, Parnass, Helikon, Pentelikon, Hymettos – waren heilige Orte, mythische Orte, an denen sich das Göttliche zeigte, an denen Götter in Erscheinung traten, Orte, um die sich mythische Erzählungen rankten. Und diese Erzählungen gingen die Menschen der Antike unmittelbar an. Sie hielten sie nicht etwa für Märchen, sondern für wahr. Die olympischen Götter bestimmten ihre Welt, man brachte ihnen Opfer dar, befragte das Orakel von Delphi und folgte meist auch den Weisungen der Götter. Sokrates machte sich auf, um jemanden zu finden, der weiser sei als er, nachdem ihm APOLLON durch den Mund der Pythia verkünden ließ, er sei der Weiseste unter den Griechen. Dabei wußte er doch von sich selbst am allerbesten, dass er nicht weiß. ZEUS, APOLLON und DIONYSOS beherrschten die berühmtesten griechischen Berge. Während APOLLON den Menschen in Delphi die Aufforderung entgegenrief: „Gnôthi seautón!“ – Erkenne dich selbst!, eröffnete ihnen DIONYSOS durch den Enthousiasmós, die Gotterfülltheit, eine noch darüber hinausgehende Erkenntnis: die Erkenntnis des Grundes der Welt: „Hén kaì pân“ – Eins und Alles.

Die größten Güter, so sagt Sokrates im bereits erwähnten Dialog ‚Phaidros‘, entstehen uns aus dem Wahnsinn, der durch göttliche Gunst verliehen wird ( 244a ), nämlich durch APOLLON die Gunst der Weissagung, durch DIONYSOS die Einweihung in die Mysterien, durch die MUSEN die dichterische Begeisterung und durch APHRODITE und Eros der Wahnsinn der Liebe ( 265b ). Auch APHRODITE war einst mit den Bergen verbunden, allerdings nur die vorgriechische Liebesgöttin, die ursprünglich wahrscheinlich, wie auch DIONYSOS und sogar der ‚griechischste‘ aller griechischen Götter, APOLLON asiatischen Ursprungs war. Als Große Göttin wurde sie in Kleinasien ebenso wie in Phönizien, auf Kreta und auf Zypern in Bergheiligtümern verehrt.

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Erlauben Sie mir eine Bemerkung zu dieser vorgriechisch-kleinasiatischen Götterherkunft, da dies auch für die Namen der griechischen Berge von Bedeutung ist. Denn das Wort Olympos ist genauso vorgriechischen Ursprungs wie Parnassos.

Um 2000 v. Chr. wanderten indoeuropäische Stämme aus den südrussischen Steppengebieten über den Kaukasus, teilweise vielleicht auch über die Dardanellen nach Kleinasien ein. Sie wurden die Ahnen der späteren Hethiter und Luwier. Urgestalt der kleinasiatischen Göttervorstellung war das Weltelternpaar HIMMEL und ERDE: der große Regen spendende Wettergott in der Gestalt des Stiers und die gebärende Erdmutter, die sich vermählen und zusammen einen göttlichen Sohn ( oder auch ein schönes Mädchen ), die VEGETATION erzeugen. Die kleinasiatischen Wettergötter lebten in den Gebirgen, wo sie in heiligen Hainen bei Quellen, Felsen und alten Bäumen ihre bevorzugten Aufenthaltsorte hatten. Dargestellt werden sie meist mit Hörnerkrone, auf Bergen oder Felsen stehend mit ihrem Begleittier, dem Stier. Die Große Göttin besitzt als Attributstier den Leoparden ( oder Panther > vgl. DIONYSOS ) und – die Biene [ > Kreta! – vgl. APOLLON ].

Der indoeuropäische Himmelsgott war im althethitischen Kreis der Gott Shiush. Etymologisch ist das Wort auf idg. *dieu ( div- ) zurückzuführen ( > ZEUS, lat. deus ). Ursprünglich war Shiush die Bezeichnung für den Sonnengott ( akkad. Shamash ). In Hatti gab es aber auch eine Sonnengöttin mit Namen eshta-wur-[] ( > eshta[n] = hattisches Wort für Sonne, wur = Erde ). Deren Sohn war Telipinu ( = „starker Sohn“ ). Das spätere, durch Nordsyrien beeinflusste, hethitische Götterpaar waren die syrische Bergherrin Hepat und der hurritische Wettergott Teshup. Deren Sohn war Sharruma, ebenfalls ein mächtiger Berggeist. Vater des Teshup war Kumarbi, dem im griechischen Sagenkreis nach Hesiod der Gott Kronos entspricht ( röm. Saturn ), der Vater des ZEUS. Auch Kronos wurde auf Bergen oder Hügeln verehrt ( Kronoshügel in Olympia ) oder in Gestalt von Steinidolen ( Kronosstein in Delphi). Der hurritische Olymp war der Berg Kanzura-Kandurna, der mythische Nordberg, möglicherweise identisch mit dem türkischen Tendürek Dagh, in der Nähe des Van-Sees im Lande Urartu.

Vermittler der hethitisch-hurritischen Göttermythen waren vermutlich die – ebenfalls indoeuropäischenPhryger. Den Weg nach Griechenland nahmen diese Göttervorstellungen dabei entweder – wie bereits die indoeuropäischen Völker auf ihren Wanderungen im 4., 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. – vom nördlichen Pontusgebiet oder von Kleinasien her über Bosporos und Dardanellen, Thrakien, Makedonien und Thessalien bis nach Zentralgriechenland und der Peloponnes, oder aber über den Seeweg, über die Insel Lemnos direkt zu der thessalischen Küste.

In Altanatolien bestand eine weitverbreitete Ehrfurcht vor den Gebirgen. Der Berggott war das vitale Prinzip, welches das Leben des Berges beseelte. Die Gebirge waren die bevorzugten Aufenthaltsorte der Wettergötter. Es gäbe unzählige Parallelen zu nennen zwischen den altanatolischen Berg– und Wettergöttern und Wesenszügen des ZEUS, APOLLON und DIONYSOS. Dasselbe gilt für die Verbindung der griechischen APHRODITE zu der syrisch-phönizischen Astarte (` Attart ), der syrischen Herrin der Liebe Ishara, der semitischen Ishtar und der sumerischen Inanna. Auch das Drachenkampfmotiv ( > APOLLONS Tötung des Python-Drachens in Delphi ) gehört ursprünglich in diesen vorderasiatischen Umkreis ( > die babylonische Urmeeresdrachin Tiamat, der hurritische Meeresdrache Hedammu, der altanatolische Winterdrache Illuyanka, der griechische Drachendämon Typhon (den ZEUS besiegt), der jüdische Drache Leviathan ).

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Noch eine zweite Bemerkung. Es gibt, wie einige von Ihnen wissen werden, auch einen platonischen Dialog, in dem es um die Praxis der Benennung und der Namensgebung für die Dinge geht: den Dialog ‚Kratylos‘. Ich versuche, das Entscheidende in wenigen Sätzen zu skizzieren.

1) These des Kratylos: „jegliches Ding habe seine von Natur (physei) ihm zukommende richtige Benennung“; es gebe mithin eine „natürliche Richtigkeit der Wörter (orthótes tòn onomáton), für Hellenen und Barbaren die nämliche“ ( 383a ).

2)Antithese des Hermogenes: die „Richtigkeit der Worte“ gründe sich „auf Vertrag und Übereinkunft“ (nómo – xynthéke). „Denn kein Name irgendeines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen“ (physei : nómo – thései) ( 384c-d ).

3) Über die Ablehnung des Homo-mensura-Satzes des Protagoras ( „der Mensch sei das Maß aller Dinge“ ), fragt Sokrates nach dem Weg der Überlieferung der Worte und gelangt zu einem „Gesetzgeber“ ( 388e ) bzw. einem „Wortbildner“ ( 389a ), der wiederum bei seiner Tätigkeit einen Aufseher habe: den „Dialektiker“ ( 390c-d ). Dann legt er dar, „daß das Wort von Natur (physei) eine gewisse Richtigkeit hat und daß nicht jeder versteht, es irgendeinem Dinge gehörig beizulegen“ ( 391a-b ). Hier verweist er auf Homer und auf die unterschiedliche Praxis der Benennung durch die Götter und die Menschen.

4) Es folgt ein umfangreicher Abschnitt zur Etymologie der Eigennamen von Heroen, Göttern, Dingen und Begriffen, u.a. von ZEUS ( 396a-b ), APOLLON und den MUSEN ( 405a-406a ), DIONYSOS und APHRODITE ( 406b-d ). Leider aber keinerlei Etymologien zu Phänomenen der Natur und der Landschaft – wie Bergen und Gebirgen, mit der kleinen Ausnahme der Etymologie des Namens des Orest ( 394e ): oreinón – ‚bergig, gebirgig, wild‘.

„So scheint auch ‚Orestes‘, wenn du an Oreinon denkst, ganz richtig genannt zu sein, es sei nun, daß ihm ein Zufall den Namen beigelegt oder auch ein Dichter, um das Wilde, Rauhe, Rastlose seiner Gemütsart, wie durch die Ähnlichkeit mit einem rauhen Gebirge, in seinem Namen anzudeuten.“

5) Nun stellt Sokrates seinerseits die These auf, das Wort sei „eine gewisse Nachahmung des Dinges“ (mímema … prágmatos) ( 430b ) mit Hilfe der Stimme oder von Buchstaben und Silben; wie die Malerei „auf eine andere Weise“ eine Nachahmung gewisser Dinge sei. Dass dagegen die Götter die ursprünglichen Wörter eingeführt hätten und diese deshalb richtig wären, oder in alten Zeiten die Barbaren, seien nichts als Ausreden ( 425-e ).

6) Hier kommt es zu einer Gegenüberstellung von Wort und Bild (grámma – eikón), für die beide als Nachahmungen die Forderung der Ähnlichkeit (homoíon) mit dem Gegenstand gelte ( 434a ); dies gehört zur platonischen Mimesis-Debatte.

7) Schließlich stellt Sokrates die Frage an Kratylos, ob man denn zu einer Erkenntnis der Dinge auch anders als über die Wörter gelangen könne ( 438b ). Als Kratylos dies bezweifelt, erhebt sich daraus notwendig eine Aporie für den ‚ersten Namensgeber‘ ( 438c ), was zu dem Ergebnis führt, dass eine Erkenntnis der Dinge auch ohne Worte möglich sein müsse ( 438d ).

Fazit: Die Wortbildner / Namengeber hatten bereits ‚vorgängig‘ eine Erkenntnis der Dinge gehabt, als sie zuerst die Namen schufen. Diese Erkenntnis bezog sich auf das Wesen (ousía) der Dinge. In diesem Sinn ist die Aussage, es gebe eine „natürliche (physei = wesenhafte) Richtigkeit der Wörter“ durchaus zutreffend. Dies wiederum führt nun entweder wieder zurück zur Etymologie oder aber zum Konstrukt einer ‚Ursprache‘.

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Auf den Bergen – und damit komme ich zum Schluss – erschienen die Götter den Menschen, an Orten, wo sich Himmel und Erde zu berühren schienen, wo sich Himmelsgott und Erdgöttin, oder auch der König und eine Priesterin, im Hieròs Gámos, in Heiliger Hochzeit miteinander verbanden. Die Himmlischen aber schenkten, so Platon, den Sterblichen ihre schönsten Gaben: APOLLON die Prophetie, DIONYSOS die Ekstase, die MUSEN die poetische Begeisterung und APHRODITE – die Liebe.