Die konzeptionelle Orientierung des Übersetzers bei der Interpretation künstlerischer Texte

von Nana Gogolaschwili (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi)

Nur dort, wo versucht wird, Probleme der Originalität verschieden sprachlicher „Welten“ des Autors und des Übersetzers anzusprechen, ergeben sich neue Aspekte und werden Hypothesen über übersetzerische Spezifika künstlerischer Texte aufgestellt.

Es ist oftmals gesagt worden, dass des Menschen größtes Rätsel die Sprache ist und dieses Rätsel dem Menschen in den mannigfaltigsten Gestalten entgegentritt.

Eine Art solcher Vervielfältigung der Sprache sind künstlerische Texte bzw. fiktionale „Wirklichkeiten“, denn mannigfaltige Gestaltungen der Sprache zugrunde liegen.

Die Sprache bildet das Grundmodell und Schema für die menschliche Orientierung in der Welt. Immer aber ist die Literatur darüber hinausgegangen und hat ständig neue Sondermodelle hergestellt.

Wir leben nämlich immer im Ausgang von einem gewissen Weltverständnis und beim Übersetzen eines künstlerischen Textes besteht dieses Weltverständnis in der anerkannten Vorherrschaft „der Welt“ des Schriftstellers über den Übersetzer.

Die künstlerischen Texte können von verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden. Man kann z. B. versuchen, sie vom philosophischen, semiotischen, psycholinguistischen oder

literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus zu begreifen und jeder dieser Aspekte wird das Thema einer eigenen Wissenschaft bilden. In diesem Fall eröffnet uns jede dieser Wissenschaften nur ein Teilverständnis der Welt. Vergessen wir aber dabei nicht, daß das Ganze immer mehr ist, als die Summe der Teile. So ist auch der künstlerische Text mehr als die Summe der Wesen, die man in ihm antrifft und folglich genügt es nicht, die Resultate der verschiedenen Wissenschaften zusammenzutragen, um ein getreues Bild dessen zu erhalten, was wir als Prozeß und Resultat der Weltmodellierung eines künstlerischen Textes beobachten. Eine eigentliche Interpretation der Weltmodellierung künstlerischer Texte geht also notwendigerweise über die Ergebnisse der untergeordneten Wissenschaften hinaus und muß gegebenenfalls auf linguistische Extrapolationen und Hypothesen zurückgreifen.

Der Bereich, in welchem sich diese „Welten“ treffen ist das künstlerische Selbstbewußtsein des Schriftstellers bzw. Übersetzers, das sich im Erzählraum konventionell durch die Sprache etabliert.

M. Heideggers Sprachauffassung hat in diesem Fall einen auffällig autoritären Zug: „Sinnen wir der Sprache als der Sprache nach, dann haben wir das bisher übliche Vorgehen einer Sprachbetrachtung aufgegeben. Wir können nicht mehr nach allgemeinen Vorstellungen wie Energie, Tätigkeit, Arbeit, Geisteskraft, Weltansicht, Ausdruck uns umsehen, in denen wir die Sprache als einen besonderen Fall dieses Allgemeinen unterbringen… Achten wir dagegen nur auf die Sprache als die Sprache, dann verlangt sie von uns, erst einmal als jenes vorzubringen, was zur Sprache als der Sprache gehört“ (1,251).

Die eigentliche Schwierigkeit bei der sprachlichen Weltmodellierung liegt keinesfalls darin, dass sie dem Übersetzer nicht gegenständlich erscheint, sondern darin, dass die Gegenstände und Sachverhalten dieser sprachlichen Welt anderer Art ist. Das natürlichen, wissenschaftliche und ontologische Verhältnis zur Welt ist im Grunde ein und dasselbe. Die Eigentümlichkeit der sprachlichen Weltmodellierung künstlerischer Texte besteht darin, dass das Seiende zum Gegenstand des Subjekts, in unserem Fall einerseits des Autors und andererseits des Übersetzers gemacht wird. Deshalb ist es möglich, dass der Vorstellungsbereich und das Ideenrepertoire irgendeiner Realität als Spiegel benutzt wird.

Die Bedeutungsgrenze zwischen Realität und Irrealität wird im Prozess des Schaffens oft überschritten, denn nur auf diesem Fundament des Realen-Irrealen lässt sich ein stabiles Gebäude eines künstlerischen Textes errichten.

Im Vortrag zu seinem „pyramidenhaften“ Stück Arbeit „Joseph und seine Brüder“ spricht Thomas Mann zum Leser, wie er zu dem Buch kam und was es eigentlich ist. Hier finden wir zunächst einige Zeilen, die nicht zur Geschichte und doch zum Roman gehören: „Die Versuchung, der der junge Goethe naiv gefolgt war, den legendären Kurzbericht der Genesis ‚in allen Einzelheiten auszuführen,‘ wiederholte sich bei mir einer Altersstufe, die es der fabulierenden Ausführung wohl erlaubte, auch eine menschliche und geistige Gestalt zu gewinnen. Was aber ist das: Ausführung des Kurzgefassten ins einzelne? es ist Genauigkeit, Realisierung, das Nahe-Heranrücken von etwas sehr Fernem und Vagem, so dass man es mit Augen zu sehen und mit Händen zu greifen glaubt und endlich, nachdem man so lange ungefähre Vorstellungen davon gehegt, das Endgültig-Richtige darüber zu erfahren meint. Ich weiss noch, wie es mich erheiterte, als meine Münchener Abschreiberin, eine einfache Frau, mir das Maschinen-Manuskript des ersten Romans: ‚Die Geschichten Jaakobs‘ ablieferte mit den Worten: ‚Nun weiss man doch, wie sich das alles in Wirklichkeit zugetragen hat!‘. Das war rührend; denn es hat sich ja gar nichts zugetragen.“ Thomas Mann meint hier das schöpferische Schaffen, das berufen ist, aus dem Nichts, aus einer idealen Welt eine ganz neue Welt der Realität zu schaffen. Der Prozess aus „Nichts“ etwas zu schaffen, gehört einer anderen Sprache an als der der dinglichen und seelischen Realität.

Die künstlerischen Texte können als Texte des jeweiligen kulturellen Codes angesehen werden.

In dem Maße, in dem die ästhetische Botschaft im künstlerischen Werk komplizierter wird, etabliert sich auf den semantisch-syntaktischen Ebenen des Werks eine Art Netz von homologen Formen, das den besonderen Code dieses Werks bildet. Die stilistische Kritik lehrt, daß die ästhetische Botschaft sich im Verstoß gegen die Norm verwirklicht. Dieser Verstoß gegen die Norm ist die zweideutige Strukturation bezüglich des Codes: die semantisch- syntaktischen Ebenen der Botschaft verletzen die Norm nach derselben Regel.

Diese Regel, dieser Code des künstlerischen Werks ist ein Idiolekt.

Als Idiolekt wird also der private und individuelle Code eines einzigen Autors definiert. Dieser Idiolekt erzeugt Nachahmung, Manier, stilistische Gewohnheit und schließlich neue Normen. (2,152). Der Translator soll das Gesetz wiederfinden, das das künstlerische Werk beherrscht. Der moderne Übersetzer unterscheidet sich nicht so sehr von seinen geschichtlichen Kollegen, weil er mehr Dinge kennt, sondern, weil er die Regel zum Übersetzen entdeckt und gelernt hat, die Texte in einer neuen Perspektive zu sehen.

Das gilt nicht nur für die künstlerischen Texte, sondern ebenso auch für die verallgemeinerte Übersetzungspraxis. Die persönliche, praktische Erfahrung des Übersetzers erklärt nicht nur die Abfolge seiner Übersetzungen, in denen sich zahlreiche Wiederholungen seiner sprachlichen Kompetenzen finden, sondern auch die sehr persönliche, häufig dichterische Form, d.h. sein eigener Idiolekt, in dem er seine Erfahrungen mitteilt. Das hat seinen Grund darin, dass die Mentalität und die Sprache eines jeden Übersetzers durch das geistige Klima bedingt ist, in dem er lebt. So ist auch die Ausrichtung seines Denkens ebenso wie sein Idiolekt, in den er komplizierte künstlerische Texte übersetzt, davon beeinflusst.

Jedes künstlerische Werk erschüttert den Code, aber er kann auch so verletzt werden, dass der Übersetzer ihn erkennen und verstehen kann, aber nicht imstande ist, ihn durch den Code einer anderen Sprache wiederzugeben. Als Beispiel solch eines verletzten Codes führen wir die Parodie „Un- Fuge“ von Arnim Eichholz auf den Text von Martin Heidegger an. Der Text von Martin Heidegger lautet: „Die Zeit zeitigt. Zeitigen heißt: reifen, aufgehen lassen. Das Zeitige ist das Aufgehend – Aufgegangene. Was zeitigt die Zeit? Antwort: das Gleich – Zeitige, d.h. auf dieselbe einige Weise in ihr Aufgehende, und was ist das? Wir kennen es längst, denken es nur nicht aus der Zeitigung. Das Gleich-Zeitige der Zeit sind die Gewesenheit, die Anwesenheit und die Gegenwart, die uns entgegenwartet und sonst die Zukunft heisst.“

Die Parodie von E. Eichholz ist nach dem Idiolekt von Martin Heidegger geschrieben. Er bemüht sich, das Gedicht von Goethe “ Heideröslein“ nach der Art von Heidegger zu interpretieren, bei dem es gang und gäbe war, den Code der Sprache zu verletzen, ihn schwerverständlich und strukturell unübersetzbar zu machen.

Die Parodie von E Eichholz beschreibt die Sprache durch den Idiolekt von M. Heidegger: „Sah ein Knab‘ ein Röslein steh’n lautet die erste Zeile eines Liedes „Heidenröslein“ von Johann Wolfgang von Goethe. Was hat sich Goethe eigentlich dabei gedacht, als er das Lied mit solchem Worten beginnen ließt?“ Dann interpretiert der Parodist jedes Wort der ersten Zeile auf Heideggersche Art „philosophisch“. Als Beispiel führen wir das Wort “ stehn“ an: „Stehn ist hier als Imstande-sein zu verstehen, anständig der Stätte des ständigen Standes vorzustehen. Die verständliche Art dieses Verstehens ist unter Umständen der Ständer, wegen dessen Beständigkeit ein gestandener Verstand von allen Standarten mit Abstand am wenigsten Anstände hat. Da nicht zu befürchten steht, daß durch ein abgestandenes Geständnis Mißverständnisse entstehen, sei noch der unmißverständliche Mißstand eingestanden, daß das Über-Sich-Hinausstehende selbständig in das Offenstehende als solches gestanden wird. Auch dieser Umstand hat einen vorübergehenden Grund in der metaphysischen Grundstellung Goethes“ ( 3, 70-71 ).

Eine glänzende Parodie, leider unübersetzbar. Sie erinnert uns an den Idiolekt von M. Heidegger, alle Wörter des Textes können übersetzt werden, trotzdem führt der ganze Text den Übersetzer zum Verfremdungseffekt. Der Autor der Parodie gibt also vor, sich an die Konvention der Eigentlichkeit zu halten, macht doch dem Zuhörer gleichzeitig klar, daß er diese Konvention durchbricht. Der Verfremdungseffekt realisiert sich durch die Entautomatisierung der Sprache. Die Sprache aber hat uns daran gewöhnt, die sprachliche Welt der Realität-Idealität nach gewissen universalen Denkkategorien und bestimmten semantisch-syntaktischen Kombinationen darzustellen. In der Parodie aber gebraucht der Autor den sprachlichen Code auf eine ungewöhnliche Art; deshalb zeigt sich die erste Reaktion des Übersetzers in einem Gefühl der Fremdheit, in einer Unfähigkeit, den Text in einen anderen Code zu übertragen. Der Idiolekt von M. Heidegger wird wiederholt erschüttert und so verletzt, daß es unmöglich ist, ihn ein anderes semiotisches Sprachsystem umzugestalten. Der Text der Parodie ist gegenstandslos geworden, ohne Gegenständlichkeit aber ist der Übersetzer nur begrenzt dazu in der Lage, den Gehalt und den Sinn des zu übersetzenden Textes wiederzugeben, von ihm Abstand zu nehmen und die universalen Denkkategorien zu erfassen, denn “ kein Ding sei, wo das Wort gebricht“ (Stefan George).

Literaturverzeichnis

1.Heidegger, Martin: Unterwegs zur Sprache, Günter Neske Pfullingen, Stuttgart, 1986.

2. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, autorisierte dt. Ausgabe v. Jürgen Trabant, München, 1994.

Purzeladze, Viola: in: Text als schriftliche Manifestation der sprachlichen Tätigkeit; zitiert nach: Das Lästerkabinett (1970). Deutsche Literatur von Auerbach bis Zweig in der Parodie. Herausgegeben von Günter de Bruyn. Philipp Reclam jun. Leipzig.