Einleitung

von Juri Mosidze (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi)

Was ich heute bei unserer Konferenz vorlegen möchte, ist eine Frage, die vielleicht ohne Antwort bleiben wird, aber – hoffentlich- gleichzeitig das herausstellen wird, was uns heute innerlich beschäftigen und beunruhigen kann. Ich möchte aber vorerst die Quellen nennen, die – meines Erachtens – diese Frage unvermeidbar entstehen und herausreifen lassen. Von meiner persönlichen (vielleicht sehr persönlichen) Erfahrung ausgehend, könnte ich in erster Linie drei solcher Quellen erwähnen:

a) die erste verknüpft sich mit der Erfahrung, die mich mit dem Begriff der „Transnationalität“ schon seit einigen Jahren verbindet – in den letzten Jahren nehme ich an verschiedenen in Österreich durchgeführten Konferenzen teil und gehe dabei unter anderem auch auf diese Frage öfters ein;

b) die zweite verknüpft sich mit der Tatsache, dass ich Georgier bin und folglich ein Land (und eine Nation) vertrete, das hinsichtlich des besprochenen Themas zwei wichtige Merkmale aufweist: einerseits ist es ein postkommunistisches Land und andererseits ein Land, dessen kulturelles Erbe tief in der Geschichte verwurzelt ist;

c) die dritte dieser Quellen ist aber von ganz anderer Art: Sie bezieht sich auf einen Gedanken von Alfred N. Whitehead, der – davon bin ich überzeugt – das Wesentliche enthält, das unsere Zeit – die Zeit der globalisierenden Transnationalität -kennzeichnet. Ich zitiere: „Eine Gesellschaft, die nicht imstande ist, die Bewahrung ihrer eigenen Symbole mit deren Revision zu kombinieren, geht unweigerlich unter; sie verfällt entweder in Anarchie oder wird schrittweise unter der Last nutzlos gewordener Gespenster erdrückt“ 1

Man sollte – denke ich – drei Momente dieser Aussage Whiteheads herausheben, die für uns kontextuell besonders wichtig sind:

a) Whitehead warnt vor einer Gefahr, die zwei mögliche Seiten (zwei Dimensionen) hat. Diese sind nämlich, erstens, die Gefahr der Anarchie – und zweitens, die Gefahr der nutzlos gewordenen und erdrückenden Gespenster;

b) die „Gesellschaft“, von der Whiteheand spricht, ist als nationale Gesellschaft zu verstehen – sonst wäre die Erwähnung von „eigenen Symbolen“ unverständlich;

c) als Rettungsmittel gegen die genannte Gefahr nennt Whitehead die Kombination von Bewahrung und Revision der eigenen Symbole und es ist absolut notwendig, das mitzudenken – Bewahrung und Revision müssten zeitlich und räumlich zusammenfallen – sonst wird die Gefahr der Anarchie oder der Gespensterherrschaft unvermeidlich.

d) Whitehead ist- das meinen wir – noch ganz im Zeitraum der Moderne, gleichzeitig aber an einem Punkt, der ihn die zweifache Gefahr spüren lässt – die Gefahr der Gespensterherrschaft, die aus der Vergangenheit und die Gefahr der „Anarchie“, die aus der ihm nahen (aber noch nicht real gewordenen Zukunft), nämlich aus der sich allmählich, aber unumgänglich reifenden Globalisierung kommt.

e) Wie sollte man heute Whiteheads Worte deuten? (Natürlich könnte man auch vermuten, dass diese Worte ganz der Vergangenheit angehören und uns Heutige gar nicht betreffen. Ich bin aber anderer Meinung. Meine Position dazu ist die folgende:Heute ist die Welt in zwei „Hälften“ geteilt – in die westliche postmodernistische und die östliche, postkommunistische „Hälfte“. Wenn wir diese beiden „Hälften“ aus der Perspektive der von Whitehead gesehenen Gefahren betrachten, könnten wir ganz eindeutig sagen: die westliche „Hälfte“ scheint der Gefahr der „Anarchie“ zu unterliegen, d. h. der Gefahr, die für Whitehead in der nahen Zukunft zu drohen schien (wenn die westliche transnational gedachte Gesellschaft heute als „leer“ bezeichnet wird), soll das nicht bedeuten, das die Anarchie immer in die Leere führt? Die zweite Hälfte aber, d. h. die postkommunistische, scheint der aus der Vergangenheit kommenden entgegengesetzten Gefahr der „Herrschaft der Gespenster“ zu unterliegen.

So läßt sich – denke ich – Whiteheads Aussage (wenn man die Realität der oben genannten Gefahren nicht bezweifelt) auf eine sehr beachtenswerte Weise umdeuten: Heute sind sowohl die Gefahren als auch die Möglichkeit ihrer Vermeidung schon nicht mehr zeitlich, sondern vielmehr räumlich zu verstehen: die Gefahr der anarchistischen Leere kommt „aus dem Westen“ – die entgegengesetzte Gefahr aber – die Gefahr der erdrückenden Gespensterherrschaft – „aus dem Osten.“ Und das ist die Situation, in der sich die Rettung nur synthetisch und dialogisch verwirklichen kann: die „östliche Hälfte“ müsste ihre Symbole bewahren, aber gleichzeitig im Sinne der westlichen „Transnationalität“ revidieren, d. h. sie aus derPerspektive der internationalen (sollte hier das „inter“ mit dem „trans“ zusammenfallen?) kulturellen Kommunikation umdeuten; die westliche „Hälfte“ aber müsste ihre Transnationalität bewahren, gleichzeitig jedoch auch revidieren: denn was wäre Transnationalität ohne dialogische Kommunikation, aber auch: was könnte man für den Gegenstand und Umfang der transnationalen (oder vielleicht „internationalen“) Kommunikation halten, wenn nationale Symbole schon verloren gegangen sind?