von Guram Lebanidze (Staatliche Ilia Tschawtschawadze Universität für Sprache und Kultur, Tbilissi)
Es läßt sich mit voller Sicherheit sagen, daß die Georgier ihre Identität – sowohl im kulturellen als auch geschichtlich -genetischen Sinne – auf folgende zwei Weisen bestimmen:
a. Sie sind Ostchristen, d.h. sie gehören zur griechisch-orthodoxen Kirche;
b. Sie sind Europäer – gemeint ist immer ausschließlich, daß sie zu den Westeuropäern gehören.
Und es läßt sich auch mit derselben Sicherheit behaupten, daß diese zwei Weisen der Identitätsbestimmung auf allen Ebenen der sozialen Wirklichkeit anzutreffen sind sowohl im Kontext der Alltäglichkeit als auch in akademisch oder politisch gemeinten Kontexten. Kurz gesagt, es gehört schon seit langem zu den Banalitäten unseres Seins, daß wir unsere Identität auf diese zwei Weisen bestimmen.
Was aber niemals geschieht- und dadurch verschwindet meines Erachtens die Banalität des hier Gesagten auf einmal und gänzlich – ist, daß diese zwei Weisen der Selbstbestimmung einander begegnen: sie lassen sich nur absolut getrennt, in ganz verschiedenen und keineswegs miteinender verbundenen situationellen Kontexten antreffen. Ein Georgier kann ganz ruhig und selbstbewußt beides von sich sagen, ohne darüber nachzudenken, ob und in welchem Sinne diese zwei Behauptungen miteinander vereinbar sind.
Was sollte – und was könnte – das alles bedeuten? Wenn ich „das alles“ sage, meine ich damit die Gesamtheit der Situation:
a. daß die beiden Selbstbestimmungen für die Georgier selbstverständlich sind; und
b. daß sie niemals einander in irgendwelchem Kontext sich begegnen.
Ist es möglich, daß eine die ganze Nation durchdringende Gewißheit grundlos sei? Wo aber – und wie – könnte dieser Grund gesehen und bestimmt werden? Und was sollte das bedeuten, wenn die oben angeführten Bestimmungen der georgischen Identität ganz bewußt und wirklich in einem Identitätskontext einander begegnen? Wie sollte dieser – vermutlich ganz neue und noch niemals bewußt gewordene – Kontext verstanden werden? Sollte er trotz dieser Neuheit im Rahmen des nur Georgiertums bleiben oder wesentlich und sinnvoll über diesen Rahmen hinausgehen? Es gibt ja kein Volk in Westeuropa, das sich zur griechisch-orthodoxen Kirche zurechnet; und es gibt ja keine griechisch-orthodoxe Gemeinschaft, die sich Westeuropa angehörig meinte. Darum kann man meines Erachtens mit Sicherheit folgendes behaupten: wenn das Zusammentreffen der oben erwähnten Identitätsbestimmungen tatsächlich und unleugbar stattfindet, das müßte man als einen Hinweis auf einen noch für uns verborgenen und unbedingt zu deutenden Sinn wahrnehmen („unbedingt“ – weil wir in eine Planetarische Wirklichkeit eintreten, wo das Selbst- und Fremdverstehen zu einer existenziellen Notwendigkeit wird).
Natürlich bedarf die Bestimmung des georgischen Identitätsgrundes einer weit- und tiefgehenden Untersuchung. Hier könnte man nur auf zwei geschichtliche Aspekte dieses vermutlichen Grundes hinweisen:
1. Die Zugehörigkeit zum griechisch-orthodoxen Christentum ist unleugbar – nicht nur, weil sie historisch belegt und selbstverständlich ist; es gibt einen viel tieferen Grund dafür, dieser Zugehörigkeit mit einem besonderen Ernst zu begegnen: es gehört ja zum allgemeinöstlichen Glauben, daß Georgien ein der Gottesmutter „zuteil gewordenes “ Land ist. Und:
2. Was die Zugehörigkeit zu Westeuropa betrifft: Georgien ist das einzige Land im Rahmen der Ostkirche, wo die soziale Struktur des Mittelalters mit derjenigen Westeuropas identisch war. (Nach dieser Periode wurde Georgien mehrmals von Muselmanen erobert und endlich von Rußland annektiert. Es konnte darum keine Rede mehr von einer autonomen sozialen Struktur sein).
Wenn aber das alles stimmt – und das stimmt ohne Zweifel – muß die georgische Identität jene antinomische Struktur besitzen, die in ihrer Tiefe zwei sonst miteinander unvereinbare Pole – das mit der griechischen Orthodoxie gemeinte Glaubenswesen und das mit die westeuropäischen sozialen Struktur gemeinte Individualität – birgt und miteinander paradoxerweise verbindet.
Georgien scheint das Land zu sein, welches das ganze Abendland mit seiner gesamten westöstlichen Polarität vertritt und durch dieses Vertreten verwirklicht. Darum kann es auch als ein paradoxes Spiegelbild des Abendlandes angesehen werden.