Kaukasus: Berg der Sprachen

von Robert Schmitt-Brandt (Staatliche Universität Tbilissi)

„Berg der Sprachen“ nannte im 10. Jahrhundert der arabische Geograph Al-Mas’udi den Kaukasus und schon Plinius berichtet, dass die Römer in Dioskurias (heute Sokhumi) 130 Dolmetscher benötigten. Sprachwissenschaftler von heute ordnen alle Sprachen und Dialekte dieses Gebiets in drei autochthone Sprachfamilien, eine südlich des Großen Kaukasus und zwei nördlich davon, eine westliche und eine östliche. Die Bezeichnung „Kaukasische Sprachen“ für diese drei Gruppen ist weder linguistisch noch geographisch gerechtfertigt, da es einerseits weder eine erkennbare genetische Verwandschaft, noch ausschließliche strukturelle Parallelen zwischen ihnen gibt und andererseits viele weitere Sprachen des Kaukasusgebiets keiner dieser drei Gruppen angehören.

Das Georgische gehört zu den südkaukasischen Sprachen, die man in der Linguistik auch Kartvelisch nennt, vermutlich weil die Sprecher dieser Sprachen fast alle Kartvelebi sind, also Bürger von Sakartvelo, wie die Georgier ihren Staat nennen.

Wir vermeiden hier diese Bezeichnung, weil sie zu Verwechslungen mit Kartuli führen kann, wie die Georgier ihre Sprache nennen. Die Südkaukasier leben, grob definiert, in den Ebenen und an den Hängen zwischen dem Großen und Kleinen Kaukasus. Wir unterscheiden dabei eine westliche und eine östliche Ebene, die durch das Suramgebirge und einige weitere Anhöhen getrennt sind. Diese stellen die Wasserscheide zwischen dem zum Schwarzen Meer und den in Richtung Kaspisches Meer fließenden Gewässern dar. Im Westen ist der wichtigste Fluss der Rioni und im Osten die Kura, georgisch Mtkvari, die nach Aserbaidschan fließt. Dieses war vor der türkischen Besiedlung von den südkaukasischen d.h. kartvelischen Albanern bewohnt.

Der Dialekt des Westens, den man Sanisch (geo: zanuri) nennt, zerfällt in zwei Subdialekte, das Lasische, das an der türkischen Schwarzmeerküste bei Rize, also zwischen Trabzon und der georgischen Grenze gesprochen wird und das Mingrelische, das auf die Sprache der Kolcher zurückgehen dürfte, denen wir in der griechischen Argonautensage begegnen. Zum östlichen Teil des Landes, der im Altertum Iberien hieß, gehört die Landschaft Kartli, deren Dialekt die Grundlage der georgischen Standardsprache darstellt, die sich nach der Vereinigung von Ost und West nach Westen ausdehnte und in Atschara das Schwarze Meer erreichte. Man vermutet, dass sowohl die Bezeichnung der iberischen Halbinsel als auch die des kaukasischen Landes Iberien auf ein phönizisches Wort für „jenseits“ zurückgeht, also „jenseits des Mittelmeers“ bzw. „jenseits des Schwarzen Meeres“ oder „von Kolchis“.

Der dritte Dialekt des Kartvelischen bzw. Südkaukasischen neben Georgisch und Sanisch ist das Svanische, (geo: svanuri) das man in den Bergen des westlichen Kaukasus und zwar nördlich von Mingrelien und Imeretien spricht. Dieser Dialekt ist am weitesten vom Georgischen und Sanischen entfernt. Einerseits ist er in mancher Beziehung altertümlicher und andererseits scheint er in der langen Epoche seit der Ablösung von den anderen beiden Dialekten viele Neuerungen durchgeführt zu haben. Dazu gehört beispielweise die Entwicklung eines Umlauts, also einer regressiven Fernassimilation der Vokale, wie wir sie aus germanischen und keltischen Sprachen kennen.

Hier sollte ich vielleicht noch einen Exkurs einschieben, der die Begriffe Sprache und Dialekt voneinander abgrenzt. Bisher verwendete ich das Wort Sprache in seinem landläufigen Gebrauch, der sich linguistisch wegen seiner Mehrdeutigkeit nicht halten lässt. Sprache nennt man üblicherweise sowohl die Fähigkeit zu sprechen (z.B. „Er hat die Sprache verloren“) als auch eine menschliche Eigenschaft (z.B. „Die Entstehung der menschlichen Sprache“) als auch eine Dialektgruppe (z.B. „Auch die niederländischen Dialekte gehören zur deutschen Sprache“) als auch eine Standardsprache (z.B. „Die niederländische Sprache basiert auf dem holländischen Dialekt“) . Nach einem von meinem verstorbenen Kollegen Klaus Heger ausgehenden Gebrauch des Wortes Sprache verbannen wir das Wort aus der Linguistik im engeren Sinn und beschränken es auf die Bedeutung Standardsprache oder Literatursprache. Vielmehr nennen wir jedes von mehr als einer Person genutzte artikulatorisch -akustische Kommunikationssystem Dialekt, wobei wir je nach dem Grad der angestrebten Differenzierung von Subdialekten, Subsubdialekten usw. sprechen . Wird einer dieser Dialekte bzw. Subdialekte verschriftet und /oder wird er in einem Staat offiziell als Standardsprache anerkannt, so entsteht aus diesem Dialekt eine Sprache d.h. Sprache ist nach dieser Definition ein politischer bzw. literarischer Begriff.

So ist beispielsweise das Maltesische ein Subdialekt des tunesischen Arabisch, dieses ein Subdialekt des Maghrebinischen, das man von Libyen bis Mauretanien spricht und das Maghrebinische ein Dialekt des Arabischen. Doch durch seine (lateinische) Verschriftung und Erhebung zur Standardsprache des Staates Malta wird es zur Sprache, obgleich die übergeordneten Dialekte bis zum Gemeinarabischen nicht als Sprachen zählen. Nach dieser Sicht ist das Georgische einerseits ebenso wie Sanisch und Svanisch ein Dialekt des Südkaukasischen, andererseits ist es aber auch die Standardsprache Georgiens, die offiziell auch in Gebieten gültig ist, wo man nicht-georgische Dialekte (arakartuli dialektebi) spricht, wie Mingrelisch und Svanisch.

Die Westkaukasier, z.B. die Adyger, Kabardiner und Tscherkessen, sitzen, wie gesagt, im Nordwesten und Norden des westlichen Großen Kaukasus und die zu ihnen gehörigen Abchasen drangen, der Küste des Schwarzen Meeres folgend, noch weiter nach Süden vor, wo sie den nördlichen Teil von Mingrelien besiedelten. Bei dieser Dialektgruppe fällt der gewaltige Konsonantenbestand und der Mangel an Vokalen auf. Einige Sprachen besitzen mehr als 80 Konsonanten und praktisch nur 2 bis 3 Vokale, die, etwa im Kabardinischen, phonologisch betrachtet, auf Null schrumpfen, weil einer der Vokale nur ein Gleitlaut ist und ein anderer nach den umgebenden Konsonanten die Qualität wechselt, also dieser Vokal nur als Zusatzeigenschaft des jeweiligen Konsonanten betrachtet werden kann d. h. wir unterscheiden nur mit Vokal versehene und nicht mit Vokal versehene konsonantische Phoneme. Auffällig ist auch die stark polypersonale Verbalstruktur und die Nutzung von Präverbien zum Ausdruck von Kasusfunktionen.

Die Ostkaukasier, zu denen die Tschetschenen, Inguschen und die ca 10 Stämme von Daghestan gehören, besitzen zum Teil eine sehr große Anzahl von Nominalklassen, deren Merkmale am Verb wiederholt werden und damit eine Kongruenz ermöglichen.

Das Südkaukasische besitzt weder die genannten Charakteristika des West- noch die des Ostkaukasischen, die Sprachfamilien sind also nicht nur genetisch, sondern auch strukturell verschieden. Einige Gemeinsamkeiten des Wortschatzes erklären sich durch ihre Entstehung.

Eine angebliche Besonderheit, welche die drei autochthonen Dialektgruppen des Kaukaus teilen, ist die Ergativkonstruktion. Darunter versteht man ein Satzbaumodell, bei dem das Objekt des transitiven Verbs im selben Fall steht wie das Subjekt des intransitiven. Also in einem Satz wie „der Mann schlägt den Hund“ steht der Hund ebenso im Nominativ wie in dem Satz „der Hund bellt“, während „der Mann“ in einem Kasus steht , den wir Ergativ nennen. In dieser Konstruktion gibt es also keinen Akkusativ. Diese Beispiele gelten für das Baskische. Im Georgischen wird die Ergativkonstruktion jedoch nur in Verbindung mit dem Aorist verwendet, der etwa wie der griechische Aorist funktioniert; ansonsten gilt die Akkusativkonstruktion, also der Satzbau, den wir aus fast allen europäischen Sprachen kennen.

In Europa ist es nur das Baskische, das die Ergativkonstruktion – und zwar in allen Tempora – verwendet. Deshalb unternahmen viele Forscher Versuche, das Baskische mit der einen oder anderen Kaukasussprache zu vergleichen. Die Ergebnisse waren ebenso unbefriedigend wie die Versuche, die drei kaukasischen Sprachfamilien genetisch zu verbinden. Was diesen Forschern meistens entgangen ist, ist die Tatsache, dass mehr als ein Viertel aller Sprachen der Erde die Ergativkonstruktion verwendet, also diesbezügliche Übereinstimmungen überhaupt nichts für eine engere Beziehung zwischen den betroffenen Sprachen aussagen. Dasselbe gilt für einige andere Besonderheiten, für die sich in vielen nicht-indogermanischen Sprachen Parallelen finden, z. B. die Opposition glottalisierter und aspirierter Konsonanten.

Eine andere Frage lautet: Warum haben sich gerade im Kaukasus so viele Sprachen und Dialekte und letztlich auch relativ viele isolierte Dialektgruppen erhalten? Wie auch manche andere Gebirgszüge dieser Erde, ja sogar etwas mehr als andere, stellt der Kaukasus ein Rückzugsgebiet für Völker dar, die in den Ebenen Eurasiens und den Hochebenen Anatoliens und Irans von anderen Völkerschaften verdrängt worden sind. Hier, in den schwer zugänglichen Tälern und auf den leicht zu verteidigenden Höhen fühlten die Menschen sich sicher, doch gerade diese Höhenzüge erschwerten auch den Kontakt zwischen den Stämmen und boten einen guten Nährboden für die Entwicklung von vielen Dialekten und Subdialekten.

Vergleichen wir andere Gebirge wie die Alpen, die Pyrenäen, den Atlas das Pamirgebirge sowie das südchinesische Bergland so bietet sich uns ein ähnliches, wenngleich kein vergleichbar differenziertes Bild. In die Alpen zogen sich die Räter und Nordetrusker unter dem Druck der Gallier, später die Gallo-Romanen unter dem Druck der Alemannen und sodann die Alemannen unter dem Druck der Franken zurück. In den Pyrenäen finden wir die Basken, wohl das einzige heute noch existierende vorindogermanische Volk Europas, dessen Verwandte noch in historischer Zeit in Aquitanien, Ligurien und Sardinien lebten, sowie nach den Ortsnamen zu schließen, auch in Teilen Frankreichs und Westdeutschlands siedelten. Im Atlas und den Nachbargebirgen Marokkos und Algeriens finden wir die Reste berberischer Vöker, die Sprachinseln innerhalb des Arabischen darstellen im Pamirgebirge ist das Buruschaski beheimatet und die vielen sprachlichen Minderheiten in Yunnan haben mit dem Mandarin, der Sprache der Hanchinesen ebensowenig etwas zu tun wie die Kaukasussprachen mit dem Russischen.

Die Sprecher der beiden nordkaukasischen Dialektgruppen dürften aus den weiten Ebenen Eurasiens stammen und wohl bei der Ausbreitung der altindogermanischen Völker im Kaukasus Zuflucht gesucht haben. Wie vielfältig die Welt der Sprachen Eurasiens in vorhistorischer Zeit war, erkennen wir an den Sprachen Amerikas, deren Sprecher letztlich alle vor zwanzig – bis zehntausend Jahren über die Beringstraße aus Eurasien kamen.

Die früheste uns bekannte Welle indogermanischer Eroberer im Süden Euroasiens, die Hethiter und Luwier, erreichte Anatolien vermutlich über den Balkan schon um 1800 vor Christus und überschichtete die dort herrschende hattische Kultur in Zentralanatolien.

Gleichzeitig erschienen die nichtindogermanischen Churriter in dem Gebiet, das etwa dem heutigen Kurdistan entspricht, wo sie unter indischer Führung den Staat Mitanni gründeten und die mit ihnen verwandten Urartäer den Staat Urartu. Unter den vielen indogermanischen Völkern, die den Hethitern folgten, waren die Armenier, die das Gebiet vom Urartu eroberten. Das churritische Gebiet wurde von Iranern besetzt, deren Nachkommen die heutigen Kurden sind. Die iranischen Völker, breiteten sich nicht nur über das heutige Iran aus wie die Meder und Perser, sondern einige von ihnen, wie die Skythen, Sarmaten und Alanen über das Gebiet der heutigen Ukraine bis Ungarn. Nach ihrer Verdrängung durch Turkvölker finden wir einen Teil ihrer Nachkommen in den heute noch iranisch sprechenden Osseten wieder, die sich westlich von Tschetschenien niederließen und in historischer Zeit über den Kaukasus in georgisches Gebiet eindrangen. Die nachfolgenden Turkvölker, die Seldschuken und Osmanen, kamen über den Kaukasus in die heutige Türkei und kleine Turkvölker, wie die Aserbaidschaner im Süden und die Kumyken und Karatschajewo-Balkaren im Norden des Kaukasus sind in jener Zeit hier verblieben. Wir sehen also, dass der Kaukasus bis in die Neuzeit hinein den verschiedensten Völkern Asyl gewährte.

Die Frage nach der Herkunft der Südkaukasier und damit der Georgier ist zwar noch nicht mit letzter Sicherheit geklärt, doch die von Herrn Rismag Gordesiani, Christian Girbal und mir selbst angestellten Wortvergleiche von Südkaukasisch, Hattisch und Etruskisch und den nicht-indogermanischen Elementen des Hethitischen scheinen eine schon zuvor von einigen georgischen u.a. Forschern geäußerte Vermutung zu bestätigen, wonach die Südkaukasier zu diesen Völkern gehören, die vor ca. 4000 Jahren bei der Eroberung Kleinasiens durch Hethiter und Luwier größtenteils untergingen, d.h. im hethitischen Großreich aufgegangen sind.

Hier bleibt noch eine Menge zu tun und wir können gespannt darauf sein, was kommende Generationen, die in dieser Richtung forschen, noch zu Tage fördern werden.