Anschauungen eines Berges: Der Kilimandjaro und seine Bedeutungen

Von David Simo (Yaoundé)

Lokale Bezeichnungen

Bezeichnungen von Bergen zeugen von den Beziehungen, die die Menschen zu ihnen unterhalten. Das Wort Kilimandjaro bedeutet in Kiswahili, der Verkehrssprache in Tansania und in vielen ostafrikanischen Ländern, Kleiner Berg von Djaro. Swahili ist eine Klassensprache, in der allein durch den Zusatz eines Präfixes die Klasse eines Wortes und damit die Einstellung zum Bezeichneten verändert werden kann. Mlima bedeutet Berg und mit dem Präfix Ki wird ein Diminuitivum gebildet. So bedeutet Kilima Kleiner Berg. Eigentlich müsste die richtige Bezeichnung des Berges Kilima Cha Njaro heissen, d.h. Der kleine Berg von Njaro. Die europäischen Geographen, die den Namen schriftlich fixiert und damit festgelegt haben, haben Cha überhört. Njaro ist der Gott, der diesen Berg bewohnt. Kilima Cha Njaro bedeutet also: Der kleine Berg, der Njaro gehört oder wo Njaro wohnt.

Die Chaga, die am Osthang des Berges wohnen, haben die Bezeichnung Kilimieiroya, was soviel heisst wie Unbesiegter kleiner Berg. Hier wurde Kilima in Kilimi umgewandelt, d.h. die Bantuendung ma durch die arabisch beeinflusste Endung mi ersetzt. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Araber seit Jahrhunderten an der Ostküste Afrikas verkehrten und dass Kiswahili eine Art Kreolensprache bestehend aus Bantu-Wörtern und einer Syntax mit arabischem Einfluss darstellt. Alle diese Bezeichnungen sind also neueren Datums. Die Chaga haben auch eine Bezeichnung für die zwei Bergspitzen: Kibo (schwarzer Berg) und Mawenzi ( weisser Berg).

Alle diese Bezeichnungen zeugen von der Ehrfurcht, die dieser Berg bei den an seinem Berghang unmittelbar wohnenden Menschen hervorruft. In den meisten Kulturen Afrikas drücken die Menschen den überwältigenden Eindruck, den manche Naturerscheinungen auf sie machen, dadurch aus, dass sie diese Erscheinung zu einer Epiphanie oder zur Behausung Gottes erheben. Das Erhabene als ästhetisches Prinzip wird somit in Verbindung mit Gott gebracht.

Der englische Anthropologe Dundas hat 1924 ein Gebet aufgezeichnet, das zu Ehren Gottes und dem Kilimandjaro zugewandt zur Mittagszeit gesprochen wird:

Wir kennen Dich, Gott. Häuptling Erhalter…
Er, der die Menschen losreißt, daß sie leben.
Wir preisen Dich, wir beten zu Dir, wir liegen vor Dir…
Herr, nimm diesen Stier, der Dir geweiht ist.
Heile den, dem Du ihn gegeben hast, und seine Kinder.
Gib uns Nachwuchs, daß wir fruchtbar sind wie Bienen…
Nun, Häuptling, Erhalter, segne, was unser ist.
(Karl Gratzl, 194.)

Wie hier deutlich wird, wird nicht der Berg angebetet, sondern ein Gott. Und dass man sich dabei dem Berg zuwendet, bedeutet nur, dass er dort wohnt.

Auch die Masai, die unweit vom Berg leben, sollen den Berg Ngaia Ngai nennen, was soviel wie Haus Gottes bedeutet. So heisst es in der Erzählung Hemingways, auf die wir noch kommen. Der Berg heisst in ihrer Sprache Oldonyo l’Engai: Berg, nämlich Kilimagnare (Wasserberg). Weil sie unten im Tal leben, haben sie neben der Ehrfurcht, die sie dem Berg gegenüber haben, auch eine gegenüber den Wolken, die über und um den Berg hängen, aber auch vor den Bächen, die ihre Quelle im Berg haben.

In einem von der Kenyanerin Tephlit Saititi aufgezeichneten Wiegenlied der Masai finden wir eine andere Bezeichnung für den Berg Kilimandjaro:

Engonyakonya
Wachse mein Kind
Yawa ingik aulo
Wachse wie ein Berg
Tabana komerek
Wachse so hoch wie der Berg Meru
Tabana oldoinyo, keri

Wachse so hoch wie Mount Kenya
Tabana oldoinyo Oibor
Wachse so hoch wie der Kilimandjaro
Tanapa minyi o ng’utony
Hilf dann deiner Mutter und deinem Vater

Hier wird der Kilimandjaro als Oldoinyo Oibor, d.h. Berg Oibor bezeichnet. Ob Oibor einfach ein Eigenname ohne Bedeutung ist oder eine Bedeutung hat, konnte ich nicht ermitteln.

Aber die Pluralität der Bezeichnungen zeugt von der Pluralität der Beziehungen zu ihm. Am 8. Dezember 1961 schloss sich Tanganyka, das ehemalige Deutsch-Ostafrika, mit der Insel Zansibar zusammen. Die Unabhängigkeit von Großbritannien wurde erklärt und beide bildeten die Republik Tansania. Eine der feierlichsten Zeremonien der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten war die Entzündung einer Flamme am höchsten Punkt vom Kibo, und das heisst am höchsten Punkt Afrikas. Bei der Gelegenheit wurde diese Spitze in Uhuru Peak (Spitze der Freiheit ) umbenannt. Der bis dahin als unnahbar betrachtete Ort, der zwar längst entweiht worden war durch Bergbesteiger, aber seine Unheimlichkeit nicht eingebüsst hatte, wurde also nun zum Symbol der neu erlangten Freiheit. Die Flamme, die eine glühende Zukunft darstellen sollte, wurde am Gipfel des Sitzes von Ndjaro oder Ngai entzündet. So wurde der Kilimandjaro nicht nur der Ort, von dem aus Leben, Gesundheit und Segen kommt, sondern Bewahrer der Hoffnung und der Zukunft.

Fremde Bezeichnungen

Wir haben gesehen, dass schon bei der Fixierung des Namens Kilimandjaro nicht-lokale Einflüsse im Spiel waren. In der Tat wurden die Namen der meisten Berge Afrikas in ihrer heute geläufigen Schreibweise von europäischen Kartographen fixiert. Aber in diesem Fall ging man immerhin von der lokalen Bezeichnung aus.

Aber es gibt auch andere Beispiele: Am 6. Oktober 1889 gelang es dem Deutschen Hans Meyer, nachdem er es zwei Jahre zuvor nicht geschafft hatte, den Kilimandjaro bis zu seinem höchsten Punkt zu besteigen. Begleitet wurde er von dem Salzburger Turnlehrer Ludwig Purtscheller. Zu dieser Zeit war der Berg Teil des Deutschen Schutzgebietes Ostafrika. So wurde der Gipfel des Kibo, der später in Uhuru Peak umgetauft wurde Kaiser-Wilhelm-Spitze genannt. Hans Meyer und Ludwig Purtscheller gaben dann den zwei Mawenzi-Spitzen den Namen von ihnen.

Wie man sieht, ändert sich der Modus der Namensgebung ganz. Aber auch hier drückt sich eine Beziehung zum Berg aus. Der Berg oder seine Teile erhalten den Namen von Herrschern oder von Leuten, die sich als seine Bezwinger betrachten. Die Namensgebung wird zum Akt der Besitzname. Das entspricht genau dem Geist der Zeit, der gekennzeichnet ist durch Kolonisation und Modernisierung. Die Kolonisation ist ein Akt der gewaltsamen Besitzname und die Modernisierung ist ein Prozess der Domestizierung der Natur durch ihre wissenschaftliche Erforschung und ihre Nutzbarmachung. Beide Prozesse, die zusammengehören, drücken sich in diesem Akt der Aneignung durch Namensgebung aus. Auch drückt sich in dieser Form der Namensgebung die Säkularisierung – die Entgöttlichung – des Berges aus.

Der Ehrfurcht gegenüber dem Berg weicht eine stolze Behauptung der Macht über ihn. Der Sitz Gottes wird entweiht. Aber die Faszination bleibt. Dass gerade Namen von Mächtigen oder Möchte-Gern-Mächtigen dem Berg gegeben werden, zeugt davon, dass er nicht als banaler Ort betrachtet wird. Dadurch, dass man ihm seine Namen gibt, möchte man Anteil an seiner majestätischen Erscheinung haben. Die Namensgebung wird somit zur Zelebrierung der Männlichkeit und der Würde der Namensgeber selber. Dem Berg seinen Namen geben, bedeutet also, sich mit ihm vergleichen, sich selber durch diesen Vergleich zu seiner Höhe erheben. Auch das ist ein Ausdruck der Verehrung. Aber eine egozentrische und narzisstische.

Der Schnee von Kilimandjaro und die westliche Phantasie

Schon in der Antike beflügelte die Möglichkeit des Vorhandenseins von Schnee in Afrika die Phantasie der Griechen. Der Schnee wurde von vielen als Hypothese verwendet, um zu erklären wie ein Fluss wie der Nil durch eine trockene Region fließen könne. So schreibt Seneca: „Anaxagoras meint, dass die Verschmelzung des Schnees von den hohen Bergen Afrikas bis zum Nil fließt.“ (Zit. nach Bourgeois, 29.) In seinem Äthiopis, von dem nur Fragmente existieren, vertritt Aischylos die Meinung, dass der Nil durch die Verschmelzung des Schnees zu erklären ist, denn in Afrika „verschmilzt die Sonne mit dem glühenden Gesicht den Schnee, wenn er aufgeht.“ ( Zit. nach Bourgeois, 30.)

In der Antike werden daher schon Versuche unternommen, um diese Hypothese zu überprüfen und die Quelle des Nils zu entdecken. Erst im 19. Jahrhundert werden Europäer die Antwort auf die Frage nach der Quelle des Nils finden. Die Hypothese der alten Griechen wird nicht bestätigt.

Im Jahre 1848 berichtet der Württemberger Missionar Rebmann vom Kilimandjaro und spricht von seiner Schneebedeckung. Sein Bericht wird heftig unter Geographen diskutiert. Vor allem der englische Geograph W.D. Cooley schließt die Möglichkeit einer Schneebedeckung aus und spricht von Sinnestäuschung. Der Bericht Rebmanns und der seines Kollegen L. Kraft lösen in Europa eine Flut von Forschungsreisen aus.

1861 zogen der deutsche C.v.d. Decken und der Engländer R. Thornton gemeinsam von Mombassa aus zum Kilimandjaro und erforschten dessen südliche Hälfte bis an die Urwaldgrenze. Am 14. Juli 1861 sah Becken zum ersten Mal den Kilimandjaro und seine Schneebedeckung. Auf einer zweiten Expedition, die er 1862 unternahm, zog Decken zusammen mit seinem neuen Begleiter, O. Kersten, über das Bergland Ugueno zur Westseite des Berges, den sie bis in eine Höhe von 4.280 m bestiegen; aber wegen mangelhafter Ausrüstung mussten sie umkehren. (Henze: 11, 34.)

Erst in der von den Deutschen als „nationale Periode“ der Entdeckungsgeschichte Ostafrikas genannten Zeit, d.h., nachdem die Deutschen die Region unter ihre Macht gebracht hatten, gelang dem Deutschen Hans Meyer 1889 die vollständige Besteigung des höchsten Gipfels Afrikas.

Decken hatte aber bereits 1861 die Existenz einer Schneebedeckung des Kilimandjaro für die Fachwelt und für alle Menschen in Europa endgültig beglaubigt. Der Schnee mitten im tropischen Afrika hörte damit auf, eine Legende zu sein und wurde zur Wirklichkeit. Aber sie blieb eine unheimliche Wirklichkeit, die weiterhin die Phantasie beflügelte.

Ein Beispiel dazu: 1938 schrieb Ernest Hemingway die Erzählung “ The snows of Kilimandjaro“. Dieser Erzählung fügt er einen Paratext hinzu, der wie folgt lautet:

Kilimandjaro is a snow covered mountain 19,710 feet high, and is said be the highest mountain in Africa. Its western summit is called the Masai „Ngaje Ngai“, the House of God. Close to the western summit there is the dried and Frozen carcass of a leopard. No one has explained what the leopard was seeking at that altitude.

In diesem kurzen Text sind viele wichtige Motive, die den Schlüssel zum Verständnis der Erzählung liefern, enthalten, nämlich der Berg als Haus Gottes, der Tod, symbolisiert durch das Gerippe des Leoparden, die Höhe, die Ewigkeit und das Unerklärliche. In der Erzählung selber erscheint der Schnee des Kilimandjaro nur als letzte Vision des kranken Protagonisten Harry. Harry ist ein Schriftsteller, der auf Safari durch Kenya fährt. Bei der Jagd wird er durch einen Dorn verletzt und wegen einer nicht sorgfältigen Behandlung der Wunde bekommt er eine Blutvergiftung, die ihn tödlich bedroht. Er wartet auf einen Wagen oder ein Flugzeug, das ihn in die Stadt bringen soll, wo er ärztlich behandelt werden könnte. Der Text besteht auch aus Überlegungen und Visionen des kranken Schriftstellers, die von einem Erzähler wiedergegeben werden. Die Überlegungen betreffen die nie geschriebenen Werke, die noch zu schreiben sind und die Visionen vergegenwärtigen vergangene Szenen seines Lebens. Nur die letzte Vision ist eine Szene in der Gegenwart/Zukunft, als das lange erwartete Flugzeug endlich kommt und ihn mitnimmt. Statt ihn in die Stadt zu fliegen, fliegt es ihn auf den Kilimandjaro zu:

Then they began to climb and they were going to the East it seemed, and then it darkened and they were in a storm, the rain so thick it seemed like flying through a waterfall, and then they were out and Compie turned his head and grinned and pointed and unbelievably white in the sun, was the square top of Kilimandjaro. And then he knew that there was where he was going.

Diese Vision erscheint genau in dem Moment seines Todes in dem Zelt, wo er tatsächlich liegt und wo seine Freundin seinen Tod feststellt. Der Schnee des Kilimandjaro erscheint somit in Verbindung mit dem Tod als letzter, endgültiger und ewiger Zufluchtsort, genauso wie für den Leoparden. Der weiße Schnee wird zum Leichentuch. Der Tod, der zum „Hause Gottes“ führt, erscheint auch als Voraussetzung einer erfrorenen ewigen Existenz.

Auch bei dem Franzosen Pascal Daniel wird der Schnee des Kilimandjaro mit dem Tod assoziiert. In seinem in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts produzierten Lied mit dem gleichen Titel wie Hemingways Erzählung – „Les neiges du Kilimandjaro“ (Der Schnee des Kilimandjaro) – wird der Schnee des Kilimandjaro beschrieben als eine weiße Decke, in die das angesprochene Du sich bald einwickeln wird, um zu schlafen.

Bei Hemingway gibt es auch Erinnerungen an Schnee in Vorarlberg zur Weihnachtszeit, im Krieg und nach dem Krieg, aber der Schnee wird in diesen Texten nicht mit dem Tod assoziiert, sondern mit dem Spiel, mit gemütlichen Stunden beim Trinken. Warum wird gerade der Schnee des Kilimandjaro zum Symbol von Tod und Ewigkeit? Wegen seiner Gleichzeitigkeit mit dem auf der unteren Ebene herrschenden üppigen Leben von Pflanzen und wilden Tieren? Auf jeden Fall ist Afrika bei Hemingway ein Ort der Hoffnung, des Neubeginns, des Glückes und des Todes zugleich.

Die Schneebedeckung des Kilimandjaro, die keine Legende mehr ist, hört auf, die Spenderin des Lebens durch den Nil wie in der europäischen Antike zu sein und wird zum unheimlichen Ort des Todes in den Tropen. Bei den Chagas und bei den Masai, sowie im heutigen Tansania bleibt er ein Ort der Hoffnung und des Lebens. In einem anderen Chaga-Gebet heißt es in einer französischen Fassung:

Et tout d’abord je te parlerai – mont Kibo – et je lèverai les yeux vers toi, et je cracherai dans ta direction, et je m’adresserai à toi en ces termes: je te salue, Kibo, toi qui vis avec le chef (Dieu ou Soleil).
Puissé-je me dresser comme toi, et avoir ta bénédiction quand je coupe le fourrage du bétail. Puisse mon bétail ne jamais avoir de mal, se dresser comme toi et s’accroître comme la feuille de raphia.
O chef, je t’en conjure: que le fourrage coupé pour mes chèvres leur porte bonheur afin qu’elles ne perdent pas un chevreau, mais, au contraire, qu’elles poussent en bonne forme vers le ciel, comme le mont Kibo.
Kibo, je te nomme, car tu donnes l’eau douce, l’eau expiatoire: dans tes fissures vivent les blaireaux des rochers, mâles et femelles puisse tout mon bétail être aussi doux. (Dieterlen, 180-181).(1)

Anmerkung

(1) Dieses Gebet wurde vom deutschen Anthropologen B. Gutmann aufgezeichnet. Die Originalversion konnte ich nicht finden. Nur über diese französische Version, die selber eine Übersetzung aus einer englischen Übersetzung, ist, verfüge ich.


Literaturverzeichnis

Blondi, Pascal: Le sommet de l’Afrique: les neiges du Kilimandjaro. WWW:// membres. Lycos. Fr/pblonde/Kilimandjaro.htm/1989

Bourgeois, Alain: La Grèce Antique devant la Négritude. Présence Africaine. Paris 1971.

Dieterlen, Germaine (Hrsg.): Textes sacrées d’Afrique Noire. Gallimard, Paris 1965.

Dundas, C.: Kilimandjaro and its people, London 1968. (New Impression. Original edition 1924.)

Gratzl, Karl: Mythos Berg. Lexikon der bedeutenden Berge aus Mythologie, Kulturgeschichte und Religion. Verlag Brüder Hollinek, Purkersdorf 2000.

Gutmann, B: Die Stammeslehren der Dschagga. C.H.Beck, Münster 1926.

Henze, D.: Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde. Graz 1975.

Loogman, Alfons: Swahili Grammar ans Syntax. Louvain 1965.

Teplilit Ole Saititi (Hrsg): Les Masai. Hachette. Paris O. J.

Wolkinger, F: Der Kilimandjaro und seine Pflanzenwelt. In: Alpenverein Graz, Nachrichten 3, 1993 und 1, 1994.