„Wie fliegen die Goldadler der Flammen überall, um die Sonne, um die Eiskuppeln […] und ruhen mit aufgeschlagenen Flügeln an grünen Alpen aus“ (Jean Paul).

Von Anette Horn (Kapstadt)

Der dichterische Blick von oben

Jean Pauls Reflektionen über die Alpen stehen im Kontext des ästhetischen Diskurses des 18. und frühen 19. Jahrhunderts über das Erhabene, in dem die Alpen eine zentrale Rolle spielen. Der englische Schriftsteller Thomson leitete diese Aufwertung der Alpen ein und machte sie sowohl zu einem beliebten Gegenstand ästhetischer Darstellung als auch zu einem beliebten Reiseziel. So fing der alpine Tourismus an.

Byron reflektiert in einem Gedicht über den Mont Blanc die Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die durch den Diskurs des Erhabenen von dem unnahbaren und unberührten Berg erweckt wurden und der Realität, die sich dagegen notwendigerweise als eine Enttäuschung ausnimmt und leitet daraus den unüberbrückbaren Widerspruch zwischen ästhetischer Imagination und alltäglicher Wirklichkeit ab.

Die äußere Sensibilität für die erhabene Natur wird jedoch auch ein Abzeichen für die innere Nobilität des fühlenden und denkenden Subjekts. So steht der Diskurs des Erhabenen in engem Zusammenhang mit dem Geniekult des Sturm und Drang, der Klassik und der (Früh)Romantik. Erst mit den volkstümlichen und realistischen Zügen der Spätromantik und des Realismus weicht diese Kennzeichnung der Heldinnen und Helden als außergewöhnliche Individuen einer realistischeren Einschätzung ihrer Grenzen. Das hängt wohl mit der Einsicht zusammen, daß in der bürgerlichen Gesellschaft geniale Individuen nicht mehr die Geschichte machen, sondern Kollektive.

In Jean Pauls Werk läßt sich dieser Wandlungsprozeß in der Bedeutung der Berge gut nachzeichnen. In seinen frühen Romanen bis etwa zum Titan sind die Heldinnen und Helden hohe Menschen, die von hehren Idealen geleitet werden statt von niederen materialistischen Motiven. Sie stehen damit ganz im Zentrum des Geniekults. Das geht schon allein aus ihrer unterschiedlichen Naturerfahrung hervor. Die höheren Menschen sind von der erhabenen Natur, wie den Alpen, angezogen, während die niederen oder durchschnittlichen an ihr nur die Bequemlichkeiten wie die Maibutter goutieren. Sie betrachten die Natur also unter dem Gesichtspunkt ihrer Nützlichkeit und nicht ihrem moralischen Wert an sich, der immer auch durch eine körperliche wie geistige Anstrengung errungen werden muß. Der Kaplan gehört zu dieser letzteren Sorte Mensch: „Flamin wird stärker von der entfernten als nahen Natur, mehr von der großen als kleinen gerührt, so wie er mehr für den Staat als die Wohnstube Gefühl hat, und sein innerer Mensch windet sich am liebsten an Pyramiden empor, an Gewittern, an Alpen. Der Kaplan genießet bei der ganzen Sache nichts als – Maibutter, und aus seinem Munde geht bei so vielem moralischen Apparate nichts als – Speichel, beides, weil er befährt, der Dampf fress‘ ihn an und zerbeiße seinen Schlund und Magen.“(1) Der moralische Apparat wird hier witzigerweise mit einer physiologischen Dampfmaschine verglichen, die, wie der Kaplan befürchtet, analog den Alpen seine inneren Organe angreifen könnte.

Im Titan erscheint Isola bella am Fuße der italienischen Alpen als Inbegriff einer erhabenen Landschaft, die dem genialen Helden – Albano – angemessen ist. In ihrer Beschreibung gehen Berge, ein Wasserfall, die Insel und der See eine typische ästhetische und fast schon klischeehafte Einheit ein. Die Ergriffenheit gehört ebenfalls zu den erwarteten Reaktionen auf diesen Diskurs des Erhabenen: „‚O Gott!‘ rief er selig erschrocken, als alle Türen des neuen Himmels aufsprangen und der Olymp der Natur mit seinen tausend ruhenden Göttern um ihn stand. Welch eine Welt! Die Alpen standen wie verbrüderte Riesen der Vorwelt fern in der Vergangenheit verbunden beisammen und hielten hoch der Sonne die glänzenden Schilde der Eisberge entgegen – die Riesen trugen blaue Gürtel aus Wäldern – und zu ihren Füßen lagen Hügel und Weinberge – und zwischen den Gewölben aus Reben spielten die Morgenwinde mit Kaskaden wie mit wassertaftnen Bändern – und an den Bändern hing der überfüllte Wasserspiegel des Sees von den Bergen nieder, und sie flatterten in den Spiegel, und ein Laubwerk aus Kastanienwäldern faßte ihn ein.“(2)

Die hohen Ideale des Genies werden durch die Sublimierung der körperlichen Instinkte erkauft. In der Höhe der Berge erfährt man sich nicht nur als den Alltagsmenschen entrückt, sondern man ist auch dem Göttlichen näher. Dieses Göttliche manifestiert sich in der Besinnung auf das wesentliche Innerliche, das über den Körper mit seinen Trieben triumphiert. Dies ist der sakrale Hintergrund zu dem Geniekult des 18. Jahrhunderts, einer Haltung, wie sie von Anselm von Canterbury, dem Vater der Scholastik, in gleicher Intensität praktisch geübt und theoretisch begründet wurde. Das Göttliche wird auf einer Skala zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen als dem Himmlischen näher imaginiert, sodaß die Anstrengung des Bergsteigens den enthaltsamen Mönch Gott auch physisch näher bringt. Die Distanz zwischen dem Laien und dem Mönch steht somit in direktem Verhältnis zur Intensität der Askese.

In der Vorschule der Ästhetik definiert Jean Paul die weltliche Askese ähnlich als einen höheren Trieb, der über den niederen körperlichen Trieben steht. Die Haltung, die daraus hervorgeht, ist die Besonnenheit, die er mit einem „durchsichtigen, reinen Eisberg“ über den „dunklen Erden-Alpen“ vergleicht, also als etwas Höheres als das Höchste, was es auf Erden gibt. In diesem Prozeß ebnet der höhere Trieb alles Irdische ein. Er wird mit einem Vernichtungskrieg verglichen, in dem es keine Möglichkeit des Vertrags und des Kompromisses gibt. Es geht somit um alles oder nichts:

Sobald im Genius die übrigen Kräfte höher stehen, so muß auch die himmlische über alle, wie ein durchsichtiger reiner Eisberg über dunkle Erden-Alpen, sich erheben. Ja eben dieser hellere Glanz des überirdischen Triebes wirft jenes Licht durch die ganze Seele, das man Besonnenheit nennt; der augenblickliche Sieg über das Irdische, über dessen Gegenstände und unsere Triebe dahin, ist eben der Charakter des Göttlichen, ein Vernichtungkrieg ohne Möglichkeit des Vertrags, wie ja schon der moralische Geist in uns als ein unendlicher nichts außer sich für groß erkennt. Sobald alles eben und gleich gemacht worden, ist das Übersehen der Besonnenheit leicht.(3)

Die Skala des Vergleiches zwischen den realen Alpen und den imaginären moralischen Alpen ist enorm, denn der Vergleich dient ja dazu, das Irdische auf ein Minimum zu reduzieren. Damit wird eine extreme Verachtung des Materiellen und Körperlichen von einer moralischen Warte signalisiert.

Mit dem Geniekult eng verbunden ist der Topos der Freundschaft zweier durch die gleichen hohen Ideale verbundener Menschen. Die einsame Alpenlandschaft erscheint denn auch als Ort verklärten Glücks, an dem die Begegnung der Freunde stattfindet. Es ist eine mondstille Nacht und die Sterne leuchten. Die erregte, emotionale Innen- und die lebendige, kosmische Außenwelt scheinen sich gegenseitig zu widerspiegeln und zu steigern, wie es sich in der Ver- und Enthüllung des Freundes, Emanuel, und des Mondes manifestiert:

Siehe! als der dunkle Tränentropfen noch auf dem Auge lag und der Mond noch hinter den Alpen verzog: da stieg den Berg herauf eine weiße Gestalt mit zugeschlossenen Augen – lächelnd verklärt – selig – gegen den Sirius gewandt – – // ‚Emanuel, erscheinst du mir?‘ rief bebend Horion und riß seine Tränen herab. Die Gestalt schlug ihre Augen auf. Sie breitete ihre Arme aus. Viktor sah nicht und hörte nicht, er glühte und zitterte. Die Gestalt flog ihm entgegen, und er gab sich hin: ‚Nimm mich!‘ Sie berührten einander – sie umschlangen einander – der Nachtwind riß durch sie – das fremde Getön klang näher – ein Stern zerschoß – der Mond flog über die Alpen herauf…(4)

Der Mond erscheint hier als Markstein zwischen der ersten und der zweiten Welt, also zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen. Er leitet über in die Welt der Träume und Visionen, aber auch des Todes, sodaß hiermit auch die Überschreitung der Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits angedeutet wird. Hierfür bietet die nächtliche Alpenlandschaft ein eindrucksvolles Vorbild mit ihren vom Mond beschienenen Nebeln und Irrlichtern, die Viktors schwärmerische Youngsche Nachtgedanken auslösen:

Er sah nicht voraus, daß der Mond den Berg früher bestrahlen werde als die Tiefe. Der Mond, dieser Leuchtturm am Ufer der zweiten Welt, umzog jetzt den Menschen mit bleichen Gefilden, die aus Träumen genommen waren, mit blaß schimmernden Auen aus einer überirdischen Perspektive, und die Alpen und Wälder lösete er in unbewegliche Nebel auf – über der halben Erdkugel stand tief der Lethefluß des Schlafes, unter der grünen Rinde stand das Totenmeer, und zwei liebende Menschen lebten zwischen dem weiten Schlafe und Tod(5)

Damit wird auf die Stunde der Erscheinung angespielt, doch auch auf die Tatsache, daß sich die Freunde in ihren Träumen und in der Erinnerung immer gegenwärtig sein werden.

Im diametralen Gegensatz zum Stellenwert der Alpen im Diskurs des Erhabenen steht die Froschperspektive des idyllischen Vollglücks in der Beschränkung. In diesen Idyllen erscheinen die Alpenwiesen und -täler der Senner nicht als schroffe Orte der körperlichen Bedrohung, Herausforderung und der Einsamkeit, sondern als Orte anakreontischer Freuden. Für diese Umwertung der Alpen hat Geßner Pate gestanden, den Jean Paul im Vergleich zu Herder und Goethe jedoch herabsetzt, weil er für eine süßlich verfälschte Darstellung der Alpen eintritt:

Die Idylle fordert eben für ihre Beschränkung im Vollglück die hellsten örtlichen Farben nicht nur für Landschaft, auch für Lage, Stand, Charakter und verwirft die unbestimmten duftigen Allgemeinheiten Geßners, in welchen höchstens etwan Schaf und Bock aus den Wasserfarben auftauchen, aber die Menschen verschwimmen. […] Schon welche köstliche Naturfarben hätte sich nicht Geßner von seinen Alpen – von den Sennenhütten – den Schweizerhörnern – und aus den Tälern holen können! In Goethens Jeri und Bäteli lebt mehr Schweizer-Idylle als im halben Geßner.(6)

Hier wird das gute, reine Teutonische dem unechten, verfeinerten Französischen gegenübergestellt. Nur das seichte Deutsche läßt sich leicht ins Französische übersetzen und ist damit ein Zeichen seiner Minderwertigkeit.

Die Idylle existiert für Jean Paul aber bereits in der Kindheit, und ist somit als Erinnerung an einen paradiesischen Zustand jederzeit abrufbar. In diesen Erinnerungen erscheinen die Alpen als Schäferidylle. Die Idylle enthält aber auch ein Versprechen auf zukünftiges Glück:

Firmian hatte in seiner Kindheit hundertmal den Schafstall seines Vaters dem blasenden Prager und Schäfer unter den Hirtenstab getrieben – und dieser Alpen- Kuhreigen weckte auf einmal seine rosenrote Kindheit, und sie richtete sich aus ihrem Morgentau und aus ihrer Laube von Blütenknospen und eingeschlafnen Blumen auf und trat himmlisch vor ihn und lächelte ihn unschuldig und mit ihren tausend Hoffnungen an und sagte: ‚Schau mich an, wie schön ich bin – wir haben zusammen gespielt – ich habe dir sonst viel geschenkt, große Reiche und Wiesen und Gold und ein schönes, langes Paradies hinter dem Berg – aber du hast ja gar nichts mehr! Und bist noch dazu so bleich! Spiele wieder mit mir!‘ – O wem unter uns wird nicht die Kindheit tausendmal durch Musik geweckt, und sie redet ihn an und fragt ihn: ‚Sind die Rosenknospen, die ich dir gab, denn noch nicht aufgebrochen?‘ O wohl sind sie’s, aber weiße Rosen waren’s.(7)

Jean Paul benutzt die Alpen aber auch, um die Relativität des Zeit-Raums sowohl im geologischen als auch im moralisch-historischen Sinne zu illustrieren. Er argumentiert, daß sowohl die dunklen als auch die hellen Jahrhunderte ihren inhärenten Wert haben. Die Verwirrung über die Bedeutung der Zeitalter entsteht erst aus unserer begrenzten Perspektive; letztendlich dient alles einem kosmischen Plan. Seine Naturauffassung beruht auf dem Überfluß. Er schreibt, daß sie

bei ihrer Unerschöpflichkeit keinen Kraftverlust kennt, [und daß es] kein anderes Gesetz der Sparsamkeit gibt als das der Verschwendung – da sie mit Eiern und Samenkörnern ebensogut der Ernährung als der Fortpflanzung dient und mit einer unentwickelten Keim-Welt eine halbe entwickelte erhält – da ihr Weg über keine glatte Kegelbahn, sondern über Alpen und Meere geht: so muß unser kleines Herz sie mißverstehen, es mag hoffen oder fürchten; es muß in der Aufklärung Morgen- und Abendröte gegenseitig verwechseln; es muß im Vergnügen bald den Nachsommer für den Frühling, bald den Nachwinter für den Herbst ansehen. Die moralischen Revolutionen machen uns mehr irre als die physischen, weil jene ihrer Natur nach einen größern Spiel- und Zeitraum einnehmen als diese – und doch sind die finstern Jahrhunderte nichts als eine Eintauchung in den Schatten des Saturns oder eine Sonnenfinsternis ohne Verweilen.(8)

Jean Paul benutzt die Alpen und das Besteigen der Alpen für philosophische Argumente, wie man sein Leben zu führen hat, um Schmerz und Leid zu vermeiden. Damit will er Trost spenden, wie z.B. aus folgendem Beispiel hervorgeht, in dem es um die Bewältigung einer großen Aufgabe, die das Schicksal uns auferlegt, durch kleine Schritte geht, die durch einen kleinen Lichtkreis eingeschränkt sind. Dazu verwendet er als Vergleich die Überquerung der Alpen bei Nacht. Sein Blickwinkel wechselt von individuellen Schicksalen zu nationalen über:

Wie man mit Lichtern nachts über die Alpen von Eis reiset, um nicht vor den Abgründen und vor dem langen Wege zu erschrecken: so legt das Schicksal Nacht um uns und reicht uns nur Fackeln für den nächsten Weg, damit wir uns nicht betrüben über die Klüfte der Zukunft und über die Entfernung des Ziels. – Es gab Jahrhunderte, wo die Menschheit mit verbundnen Augen geführt wurde – von einem Gefängnis ins andere; – es gab andere Jahrhunderte, wo Gespenster die ganze Nacht polterten und umstürzten, und am Morgen war nichts verrückt; es kann keine andern Jahrhunderte geben als solche, wo Einzelwesen sterben, wenn Völker steigen, wo Völker zerfallen, wenn das Menschengeschlecht steigt.(9)

Während die Alpen einer heroischen Lebenshaltung Ausdruck verleihen, tritt sie im bürgerlichen Alltag immer mehr in den Hintergrund, in dem es eher um die Bewältigung kleiner, unspektakulärer Aufgaben geht, die aber ebenso die Kraft eines Individuums in Anspruch nehmen. Hiermit scheint Jean Paul Brechts Maxime der Mühen der Ebenen vorwegzunehmen, die auf die Mühen der Berge, wie z.B. der Revolutionen, folgen und die wiederum die Voraussetzung und Vorbereitung auf große Abenteuer und Taten sind. Wieder stellt Jean Paul eine Analogie zwischen Individuum und Nation her:

Noch öfter fehlet der Spielraum der Kraft: nur der kleinste Teil des Lebens gibt einer arbeitenden Seele Alpen – Revolutionen – Rheinfälle – Wormser Reichstage – und Kriege mit Xerxes, und es ist so fürs Ganze auch besser; der längere Teil des Lebens ist ein wie eine Tenne platt geschlagener Anger ohne erhabene Gotthardsberge, oft ein langweiliges Eisfeld ohne einen einzigen Gletscher voll Morgenrot. // Eben aber durch Gehen ruhet und holet der Mensch zum Steigen aus, durch kleine Freuden und Pflichten zu großen.(10)

Jean Pauls Denken ist gerade durch dieses Paradoxon bestimmt, daß er das Kleine und das Große zusammenschließt und dadurch perspektivisch verkürzt oder vergrößert, wie mit einem Teleskop, das man ein- oder ausfahren kann, und je nach dem, das ganz Nahe oder das Weite vor sein Auge holt. Das folgende Beispiel ist eines unter vielen:

Pfarrer da zu werden, war ein mit Lindenhonig überstrichner Gedanke, der in der Geschichte nur noch einmal vorkommt, nämlich in Hannibals Kopf, als er den hatte, über die Alpen zu schreiten, d. h. über Roms Türschwelle.(11)

Dadurch entsteht eine ungewohnte Verbindung zwischen ganz verschiedenen Ordnungen des Wissens, die aber wiederum eine neue Ordnung der Dinge begründet. Diese Ordnung beruht auf dem analogen Denken, sie macht Ähnlichkeiten zwischen scheinbar unzusammenhängenden Dingen sichtbar und als Folge dieses punktuellen andersartigen Denkens produziert sie ein befreiendes Gelächter.

Jean Paul vergleicht die Genies der Geschichte mit den Alpen, auf die der Blick meistens durch Nebelschleier getrübt ist. Zeitlich gesehen will er dadurch zum Ausdruck bringen, daß ein Genie durch seine Zeitgenossen noch nicht wahrgenommen wird, erst der zeitliche Abstand lichtet die Nebel des Irrtums in die wahre Größe eines Individuums. Damit können die Vorurteile der Zeitgenossen gemeint sein, als da sind die geistigen Moden oder auch ganz einfach Mißverständnisse. Beweise für diese These findet Jean Paul genügend in der Geistesgeschichte: z.B. Sokrates, Cäsar, Herder, Goethe, aber auch er selbst ist so ein Beispiel. So macht er das Prinzip der Perspektive in Bezug auf das Genie, das er mit einem Berg vergleicht, geltend: von unten gesehen ist es durch den Nebel, den es selbst erzeugt, verschleiert, während es von den Gipfeln gesehen auf andere Gipfel blicken und auch die ganzen Abstufungen dazwischen wahrnehmen kann, ohne jedoch wiederum seinerseits alles sehen zu können, vielleicht weil ihm manche Dinge zu kleinlich erscheinen. Genialität erscheint damit nicht nur als etwas Gegebenes, sondern auch als eine Frage der Perspektive: die eigenen geistigen Voraussetzungen sind unabdingbar mit der Beurteilung der Größe anderer Individuen verknüpft.

 


Anmerkungen

(1) Jean Paul: Hesperus, Werke. Herausgegeben von Norbert Miller und Gustav Lohmann, Bd. 1-6, München: Hanser, 1959-1963, 1. Abt., Bd. 1, S. 500.

(2) Jean Paul: Titan, Werke. Herausgegeben von Norbert Miller und Gustav Lohmann, Bd. 1-6, München: Hanser, 1959-1963, 1. Abt., Bd. 3, S. 22-23.

(3) Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, Werke. Herausgegeben von Norbert Miller und Gustav Lohmann, Bd. 1-6, München: Hanser, 1959-1963, 1. Abt., Bd. 5, S. 62.

(4) Jean Paul, Hesperus, 1. Abt., Bd. 1, S. 678.

(5) Jean Paul: Hesperus, 1. Abt. Bd. 1, S. 696-697.

(6) Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, 1. Abt. Bd. 5, S. 260-261

(7) Jean Paul: Siebenkäs, 1. Abt., Bd. 2, S. 355-356.

(8) Jean Paul: Hesperus, 1. Abt., Bd. 1, S. 870.

(9) Jean Paul: Hesperus, 1. Abt., Bd. 1, S. 874.

(10) Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, 1. Abt., Bd. 4, S. 12-13.

(11) Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, 1. Abt., Bd. 4, S. 71.