Kaiser-Wilhelm-Spitze. Wie der Kilimandscharo zum höchsten Berg Deutschlands wurde

Von Alexander Honold (Berlin)

Mit seinem schneebedeckten Gipfel im Herzen Afrikas ist der Kilimandscharo ein magischer Anziehungspunkt für Bergtouristen. Doch die Geschichte dieses Berges und seiner Eroberung ist untrennbar verbunden mit der Epoche des deutschen Kolonialismus. Vor mehr als hundert Jahren bestieg der Leipziger Geograph Hans Meyer als erster den Gipfel und annektierte ihn für das Deutsche Reich. An die Spuren dieser vergessenen Episode erinnern nur noch einige Lavasteine in der Potsdamer Kaiserresidenz.

Ein kleines schwarz-weiß-rotes Zeltfähnchen, mit einer Steinpyramide mühsam befestigt, bezeichnet auf 4400 Metern Höhe den Punkt, an dem sich die beiden Europäer von ihrer Karawane und dem Gros der einheimischen Träger getrennt haben. Später soll der Wimpel in den Farben des Deutschen Reichs den nachkommenden Proviantträgern als Wegweiser dienen. Ein bescheidenes Erinnerungszeichen, gemessen an dem ehrgeizigen Vorhaben, mit dem diese Bergsteiger im Herzen Afrikas die wissenschaftliche Anerkennung und öffentliche Aufmerksamkeit ihrer Heimat zu erringen hoffen. Zusammen mit dem österreichischen Alpinisten Ludwig Purtscheller unternahm der Leipziger Geograph, Schriftsteller und Verleger Hans Meyer in den ersten Oktobertagen des Jahres 1889 bereits den dritten Anlauf, den Kibo, Hauptgipfel des Kilimandscharo-Massivs und damit die höchste Erhebung im Hochland Afrikas, als erster zu besteigen. Genauer müßte man sagen: Meyer hoffte, den Berg als erster Europäer zu bezwingen, d.h. auf schriftlich dokumentierte, beglaubigte Weise. Denn woher konnte der Forschungsreisende die Gewißheit nehmen, tatsächlich der erste zu sein, als er über die Schneefelder an der Südostflanke zum Gipfel des Kilimandscharo aufzusteigen versuchte?

Geographische Erkundungen waren im späten 19. Jahrhundert zu einer Domäne des positivistischen Denkens und der puren Faktengläubigkeit geworden. Das legendäre „zweite Entdeckungszeitalter“, das die großen, weltumspannenden Forschungsreisen von Cook bis Humboldt umgreift, wurde nach 1850 abgelöst durch eine rasante Jagd auf Rekorde und Höchstleistungen. Von den gesteigerten Reiseaktivitäten ging ein spürbarer Zeit- und Erfolgsdruck aus. Geographische Pioniertaten wie die Entdeckung unbekannter Ströme oder die Besteigung hoher Berge konnten prinzipiell jederzeit und von jedermann vollbracht werden, der über ein Mindestmaß an technischer Ausrüstung und ein Maximum an Abenteuergeist verfügte. Immer häufiger waren die Initiativen von Privatleuten erfolgreich, von vermögenden Adligen oder ehrgeizigen Reisejournalisten, während sich staatlich beauftragte Expeditionen oft als zu schwerfällig erwiesen, in der Vorbereitung überdies umständlich und zeitraubend waren. Für diese Entwicklung zum freien geographischen Unternehmertum sind die Afrikareisen Hans Meyers exemplarisch.

Meyer entstammte einer thüringischen Verlegerfamilie. Sein Großvater Joseph Meyer hatte 1826 das „Bibliographische Institut“ gegründet und war Herausgeber des seit 1840 erscheinenden „Meyerschen Conversationslexikons“, zwei heute noch fortbestehende lexikographische Institutionen. Julius Meyer, der Vater des Geographen, war als Teilnehmer der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 zeitweilig nach Amerika ausgewandert und hatte nach seiner Rückkehr das Familienunternehmen 1874 nach Leipzig verlegt. Auch für Hans Meyer wurde nach dem Studium der Volkswirtschaft eine Weltreise zum Initialerlebnis. „Nicht das Studium, sondern erst das spätere Leben“ habe ihn „zum Geographen gemacht“, so Meyer im Rückblick (Bindseil 1992, 4). Seine zweijährige Reise durch Asien und Amerika beschrieb er in dem Band Eine Weltreise von 1884, seiner ersten Buchpublikation. Im väterlichen Verlag übernahm er den Aufbau einer geographischen Abteilung, gab neben der Zeitschrift Globus auch Brehms Illustriertes Tierleben heraus und begründete die Reihen Allgemeine Länderkunde und Meyers Reisebücher. Die geographisch-landeskundliche Abteilung wurde damit zu einem Schwerpunkt des Verlagsprogramms. 1909 brachte Meyer das zweibändige umfangreiche Sammelwerk Das deutsche Kolonialreich heraus, das bald zum Standardwerk für verschiedenste kolonialwissenschaftliche Disziplinen und Aktivitäten wurde. Daß der gesamte erste Band dieses Kompendiums, von Meyer selbst verfaßt, über Ostafrika handelte, unterstreicht die Bedeutung dieser Region und damit des Schwerpunktes von Meyers eigenen Forschungsreisen für die deutsche Kolonialgeographie insgesamt.

Dem Kilimandscharo widmete Meyer die größten Anstrengungen seiner afrikanischen Jahre. Die Faszination für dieses Bergmassiv schlug sich in mehreren Reisen und einer Vielzahl von Büchern nieder. Daß er in rascher Folge in den Jahren 1887-89 insgesamt drei Versuche unternahm, den Kilimandscharo zu bezwingen, war auch seinem durchaus treffenden Gefühl geschuldet, daß die Eroberung dieses Gipfels gewissermaßen an der Zeit war. Keine ‚alpinistische‘ Herausforderung außerhalb Europas zog im letzten Jahrhundertdrittel stärkere Aufmerksamkeit auf sich. Was aber war das Besondere an diesem erloschenen Vulkan in der Mitte Afrikas, den die Eingeborenen Kilima-Ndjaro nannten, was soviel wie großer Berg oder auch weißer Berg bedeutet? Da ist zunächst seine imposante Stellung in der umgebenden Landschaft. Wie ein riesiger Solitär ragt das Kilimandscharo-Massiv aus der Ebene empor; es bildet eine wuchtige, ungleichmäßige Masse, die in der Längsrichtung bis zu 100 km Umfang besitzt und nach oben sanft zu den beiden Gipfelkegeln des Kibo und des Kimawensi ansteigt. Bereits in den frühesten Reiseberichten klingt das besondere Faszinosum des Berges in einem Motiv an, das man die „ästhetische Unwahrscheinlichkeit“ des Kilimandscharo nennen könnte eines freistehenden, schneebedeckten Bergriesen in den äquatorialen Breiten Afrikas. Weder klimatisch noch morphologisch ist dieser Brocken aus der ihn umgebenden Steppenlandschaft „ableitbar“. Was die Erscheinung des Berges in den Augen seiner europäischen Betrachter auch heute noch geradezu mystifizieren kann, ist vor allem die unbeschreibliche Wirkung atmosphärischer Phänomene. Meist nämlich sind die höheren Regionen von einem dichten Wolkenschleier umgeben, aus dem zuerst und am häufigsten die Schneekuppe des Gipfels herausragt. Dieser Schneegipfel hat bei entsprechender Wetterlage die optische Wirkung einer überirdischen, vom Boden losgelösten Erscheinung, so daß es nicht verwunderlich ist, wenn der Berg den Bewohnern der umliegenden Gebiete seit je als Sitz des Heiligen galt.

Bereits im Juni 1848 hatte der schwäbische Missionar Johann Rebmann aus dem ostafrikanischen Dschagga-Land von einem großen Berg berichtet, der von einer auffallenden weißen Wolke bedeckt war. Die von dem Missionar befragten Einheimischen bezeichneten diese weiße Spitze schlichtweg mit dem Wort für Kälte, woraus Rebmann den naheliegenden Schluß zog, es müsse sich um eine Schnee- und Gletscherdecke handeln. Doch die Vorstellung ewigen Schnees in den Tropen erschien den europäischen Zeitgenossen so unglaubwürdig, daß Rebmanns Entdeckung des Kilimandscharo, ebenso wie der Bericht seines Kollegen Ludwig Krapf über den schneebedeckten Mount Kenia, lange Zeit nicht ernst genommen wurde. Erst die Expeditionen des Barons Carl Claus von der Decken zwischen 1861 und 1865 konnten die Angaben der Misionare definitiv bestätigen. Von der Decken besuchte den in Mombasa ansässigen Rebmann und nahm Kontakt auf mit den Stammesfürsten des Massailandes. 1862 konnte er am Kilimandscharo bis auf eine Höhe von über 4000 Meter vordringen. Auch britische Forschungsreisende wandten dem schneebedeckten Vulkanmassiv im Zentrum Afrikas nun ihre Aufmerksamkeit zu. 1871 gelangte der Missionar Charles New bis in eine Höhe von 4420 m; 1883 unternahm Joseph Thomson, dessen eigentliches Ziel freilich die Durchquerung des Massai-Landes war, einen Aufstieg auf 2750 m; schon im folgenden Jahr konnte Harry Hamilton Johnston den Berg bis zu einer Höhe von immerhin 4970 m besteigen.

Eine Tour bis zum Gipfel, wie sie alle diese Exkursionen eigentlich anstrebten, wurde durch natürliche Hindernisse vereitelt, wie die extremen Wetterumschwünge und die dünne Höhenluft. Aber aber auch die sozialen und kulturellen Spannungen in der Region bereiteten Probleme. Die Ausstattung und Versorgung der Reisegruppen vor Ort und erst recht die Rekrutierung von Trägern wurde durch das herrische Auftreten der weißen Eindringlinge nicht gerade erleichtert. Gewaltsame Konflikte, etwa zwischen den Massai und den arabischen Händlern, kamen hinzu; bei seinem zweiten Anlauf zum Kilimandscharo gerieten Meyer und sein Kollege Oskar Baumann mitten in einen Araberaufstand und wurden kurzerhand gefangengesetzt. Ein gewisser Dr. Fischer, der 1882 im Auftrage der Hamburger Geographischen Gesellschaft im Massailand unterwegs war, hatte gar den Fauxpas begangen, mit den Stammesfürsten der Massai überhaupt nicht in Kontakt zu treten, geschweige denn um eine Genehmigung für die Durchquerung des Gebiets zu ersuchen. Bei einem überraschenden Zusammenstoß mit einer Massaigruppe ließ Fischer aufgrund eines Mißverständnisses in die Menge feuern, wobei eine junge Frau getötet wurde. Daß er auf halber Strecke zur Umkehr gezwungen wurde, war sicherlich noch die glimpflichste Quittung für seine schnöde Mißachtung elementarster Spielregeln des Gastrechts. Viel besser machte zur selben Zeit der Schotte Joseph Thomson seine Sache. Obwohl nur mit einem Bruchteil der Mittel Fischers ausgestattet, konnte Thomson dank seiner guten Kontakte zu den Massai umfassende geographische und geologische Forschungen im Gebiet der ostafrikanischen Vulkane anstellen und bis zu den großen Seen des zentralen Hochlands reisen.

Wenige Jahre später hatte sich die Situation gewandelt; das Gebiet zwischen Massailand, den Usambarabergen und dem Küstenstreifen gegenüber der Insel Sansibar war nun ein Teil von „Deutsch-Ostafrika“ geworden. Küstenstädte wie Tabora und Daressalam wurden zu deutschen Seestützpunkten ausgebaut, man plante zwei Eisenbahntrassen zur Erschließung des ostafrikanischen Hochlands, dessen Klima deutschen Siedlungsinteressen ebenso entgegenzukommen schien wie die prosperierende Viehwirtschaft in Ruanda. Ein bleibendes Andenken deutscher Kolonialpräsenz in der Kilimandscharo-Region sind die von dort ins deutsche Alltagsleben übernommenen „Usambara-Veilchen“. Dagegen ist die mit dem Namen Hans Meyers verbundene Schlüsselszene der Installierung deutscher Gebietsansprüche im Herzen Afrikas längst in Vergessenheit geraten. Auch den meisten der in die Tausende gehenden deutschen Bergwanderer, die Jahr für Jahr den Kibo erklimmen, ist nicht bekannt, daß sie beim Aufstieg ein Stück deutscher Kolonialgeschichte unter die Sohlen nehmen. Denn seit 1884 das Deutsche Reich begann, eigene Kolonialgebiete für sich zu beanspruchen, lagen die Usambaraberge und mit ihnen das Kilimandscharomassiv im erweiterten deutschen Hoheitsgebiet. Und für knapp zwei Jahrzehnte führte der Hauptgipfel des Kilimandscharo den stolzen Titel des höchsten „deutschen“ Berges.

Trotz ihres privaten Charakters waren Meyers Reiseaktivitäten von Beginn an in die koloniale Präsenz Deutschlands eingebunden. Der Plan zur Kibo-Expedition war, wie Meyer schreibt, „erfüllt von dem Gedanken, daß dieser höchste Berg Deutschlands auch zuerst von einem Deutschen erstiegen werden müsse“ (Meyer 1928, 13) ein Seitenhieb auf die in Zentralafrika so erfolgreichen englischen Geographen und ihre vermehrten Aktivitäten am Kilimandscharo. Nachdem Meyer und Purtscheller dem Massaihäuptling Mareale die obligatorischen Gastgeschenke überbracht und mit ihm Bananenbier getrunken hatten, machten sich die beiden mit großer Entschlossenheit an das Unternehmen Erstbesteigung. Anders als bei früheren Expeditionen wurden alle sonstigen Forschungsaktivitäten, wie die Entnahme von Pflanzen- und Bodenproben oder die Anfertigung kartographischer Skizzen, dem ausdrücklichen Hauptziel untergeordnet, den Gipfel zu erreichen. Diese Priorität kommt bereits darin zum Ausdruck, daß Meyer nun nicht mehr einen weiteren Wissenschaftler zum Begleiter wählte, sondern mit Ludwig Purtscheller einen erfahrenen Bergführer; noch heute übrigens gilt Purtscheller als Vorbild des naturnahen, nur schonende Hilfsmittel einsetzenden Kletterns. Das Hauptproblem früherer Besteigungsversuche, so erkannte Meyer, war nicht nur die „unzulängliche Ausrüstung der Besucher“, sondern vor allem „der in jenen entlegenen Regionen allzu schnell eintretende Mangel an Lebensmitteln“ (Meyer 1928, 20). Ihm wußte Meyer zu begegnen, indem er drei nach Höhenzonen abgestufte Zeltlager einrichten ließ, zwischen denen ein regelmäßiger Auf- und Abstieg von Trägern für ununterbrochenen Proviantnachschub sorgen sollte. Bis zum höchstgelegenen „Standquartier“ in mehr als viertausend Metern Höhe an dem die erwähnte Reichsflagge wehte ‚ sollte der Proviant aus dem Zwischenlager herangebracht werden, während Meyer und Purtscheller, nur noch von dem Koch und Träger Muini begleitet, nach einer letzten Nacht im Biwak über die südöstliche Flanke zum Gipfel aufzusteigen versuchten. Bei keiner Exkursion zuvor war diesen Fragen der Logistik solche Aufmerksamkeit gewidmet worden.

Meyer und Purtscheller waren also bestens gerüstet, als sie am 3. Oktober die letzte Wegstrecke zum Gipfel in Angriff nahmen. Der Aufstieg verlief über einen Eishang, dem Meyer nach seinem Leipziger Freund und Kollegen, dem Geographen Friedrich Ratzel, auf den Namen „Ratzelgletscher“ taufte. Gepeinigt von Atemnot und Kälte arbeiteten sich die Bergsteiger am frühen Nachmittag bis zur obersten Kante des Abhanges vor. „Noch ein halbes Hundert mühevoller Kletterschritte in äußerst gespannter Erwartung, da tat sich vor uns die Erde auf, das Geheimnis des Kibo lag entschleiert vor uns: Dem ganzen oberen Kibo einnehmend, öffnete sich in jähen Abstürzen ein riesiger Krater.“ (Meyer 1928, 40) Der spektakuläre Blick in den vulkanischen Trichter glich einer Umstülpung der traditionellen Ästhetik des Erhabenen; von oben zeigte der majestätische Berg eine riesige, fast dämonisch zu nennende Leere. „Wir setzten uns am Rand des Ringwalles auf das Eis nieder und ließen den Blick über den Kraterkessel, seine Eismassen, seinen zentralen Auswurfkegel, seine Umwallung schweifen.“ Auch dieses Gipfelglück war freilich nur von kurzer Dauer, denn rasch wurde den beiden klar, „daß unser Punkt (5870 Meter) nicht der höchste war, sondern daß die oberste Erhebung des Kibo links von uns, auf der Südseite des Kraterrandes lag, wo drei Felsspitzen aus dem nach Süden abfallenden Eismantel hervorragen.“ (Meyer 1928, 41)

Angesichts der vorgerückten Zeit und der schwindenden Kräfte mußten Meyer und Purtscheller den Rückzug antreten. Sie entschlossen sich, „die Besteigung in drei Tagen zu wiederholen und dann die höchste Spitze zu forcieren“ (Meyer 1928, 41). Nach den Spielregeln des geographischen Rekords zählte allein die Höchstleistung. Es genügte also nicht, den Blick ins Innere dieses Berges getan zu haben; was noch fehlte, war das für den Akt der Inbesitznahme entscheidende Erreichen des Gipfelpunktes. Seit jeher waren die Spitzen der Berge Symbole der Macht. Im Mittelalter galt der Blick von oben als Inbegriff göttlicher Allwissenheit, seine Eroberung durch den Menschen als Sünde schlechthin. Denn diesem Blick eröffnete sich ein Panorama, das zugleich alle Möglichkeiten der Überwachung verhieß, und damit die symbolische Kontrolle und Feier des eigenen Besitzes. Der Blick, der wie ein Scheinwerfer über das Land schweift, sagt: All das ist meines, unterliegt meiner Botmäßigkeit. Gerade die scheinbar neutrale geographische Exploration ist an diese Möglichkeit zur Übersicht, zum Blick von oben gekoppelt, und selbst die kartographischen Blätter speichern diesen Effekt durch ihre Perspektive der „Totale“. Im Kolonialverhältnis stellt die Besteigung des Gipfels einen Triumph dar, um den der Kolonialherr mit den alteingesessenen Bewohnern des Landes nicht konkurrieren muß. Denn daß die Einheimischen trotz ihrer überlegenen Kenntnisse der Topographie und Witterung niemals auf die Idee gekommen waren, den Kilimandscharo selbst zu erklimmen, ist für die Europäer ein schlüssiges Indiz ihres mangelnden Machtstrebens und ihrer kulturellen Unterlegenheit.

Wie auch Meyer immer wieder hervorheben mußte, waren die Eingeborenen trotz ihrer körperlichen Belastbarkeit und Ausdauer hier keineswegs ebenbürtig; im alpinen Bereich hatte der weiße Mann sein Heimspiel. Mehrfach und nicht ohne Genuß wird in Meyers Aufzeichnungen festgehalten, wie sehr den „zitternden Trägern“ die mit der Höhe rapide abnehmenden Temperaturen und Nachtfröste zu schaffen machten. Freilich genossen sie auch nicht das Privileg, im Zelt übernachten zu dürfen und waren, anders als Meyer und Purtscheller, weder mit Schlafsäcken und Decken ausgestattet noch mit warmer Kleidung versehen. Natürlich war die Tracht der Savannenbewohner nicht darauf ausgerichtet, den extremen Temperaturen des Hochgebirges zu trotzen. Also mußte der bis in die Gipfelregion mitmarschierende Träger Muini mit übriggebliebenen Resten vorlieb nehmen, was dann aus der Sicht Meyers ein auf Kosten des Einheimischen amüsantes Bild ergab. „Muini sah höchst verwegen aus. Er hatte über seine dürren Beine zwei Paar wollene Unterhosen gezogen, aus deren mannigfachen Öffnungen die Zipfel eines wollenen Hemdes hervorquollen. Über dem Hemd trug er eine fürchterlich zerrissene rote Uniformjacke irgendeines schottischen Infanterieregiments, an den Füßen viellöcherige wollene Strümpfe und ein Paar alte gelbe Halbschuhe, und den Kopf und Hals hatte er bis auf die Nase und die Augen in eine riesigen Sansibarturban eingewickelt, der im aufgerollten Zustand auf den heißen Steppen des Unterlandes fast seine einzige Bekleidung auszumachen pflegte.“ (Meyer 1928, 43)

Der Schwarze trug Flickwerk, das bedeutete: er war eigentlich nicht in der Lage, sich gegenüber den Formen der europäischen Kleidersprache angemessen zu verhalten. Er konnte und sollte am Berg keine gute Figur machen, denn der Wille zur Höhe war den Europäern vorbehalten. Die Bekleidung der Träger glich im wörtlichsten Sinne einem patchwork: „Zum Schutz gegen Eis, Wind und Frost hatte sich mein schwarzer Kamerad mit Tüchern und anderen Dingen sorglich eingepackt. Wie ein Bergsteiger sah er allerdings nicht gerade aus. An den Füßen trug er über den Wollstrümpfen ein Paar alte gelblederne Schnürschuhe, die Beine staken in Galahosen der preußischen Gardeartillerie, die ich aus meinem abgelegten Landwehroffiziersbestand mitgebracht hatte, den Oberkörper schützte eine karierte englische Wolljacke und den Kopf ein altes türkisches Fes, das von einem um die Ohren gebundenen Halstuch festgehalten war. Doch ich gewöhnte mich schnell an diesen unfreiwilligen Theatereffekt,“ heißt es zum versöhnlichen Beschluß der Szene, „denn Munifasi fand sich mit einer Ruhe und Gewandtheit in das vorher nie geübte Felsklettern, wie ich es bei einem Neger nicht für möglich gehalten hätte.“ (Meyer 1928, 84) Der mit gönnerhaftem Spott überzogene Träger begleitete Meyer und Purtscheller auch bei ihrem zweiten Aufstiegsversuch am 6. Oktober 1889, der von Erfolg gekrönt war.

Die Höhenmessung ergab knapp 6000 Meter, als endlich der Sockel der drei Felsspitzen erreicht werden konnte. Meyer berichtet, mit einer durch protokollarische Genauigkeit gezügelten Euphorie: „Um ½ 11 Uhr betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwetterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Purtscheller kräftig sekundiertem ‚Hurra‘ eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Flagge auf und rief frohlockend: ‚Mit dem Recht des ersten Ersteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze.“ (Meyer 1928, 46) Gaben die durcheinandergewürfelten Flicken des Trägers Muini eine vom Kolonialherrn goutierte karnevaleske Einlage, so erweist sich die Inszenierung der Gipfeleroberung ebenfalls als Spektakel von unfreiwilliger Komik. Das kräftige dreifache Hurra, die abermalige Bewimpelung afrikanischen Berggerölls, schließlich der Taufakt, mit dem die unscheinbare Felsspitze dem deutschen Kaiser persönlich zugeeignet wird all dies trägt in seiner stumpfen, einfallslosen Theatralik die Züge des neuen Zeitalters der Rekorde. Der protokollarische Salto, mit dem ein kümmerlicher Steinhaufen als Kaiser-Wilhelm-Spitze der deutschen Sprach- und Symbolordnung einverleibt wird, gibt sich als entschiedene Travestie zu erkennen. Wie der einheimische Träger in ein absurdes Gemisch aus Schottenjäckchen, Turban und preußischer Galauniform gehüllt wird, so hängt der biedere Geograph dem afrikanischen Berg nun eine deutsche Bemäntelung um. Bemerkenswert, wie in diesem Fall zwei Größen durch wechselweise Auszeichnung aneinander wachsen: der höchste Berg Afrikas erhält das Prädikat ‚deutsch‘, und Deutschland bekommt im Gegenzug einen Sechstausender zugesprochen. Mit nachhaltigen Konsequenzen: Denn die deutsche Flagge auf dem Kilimandscharo wird im folgenden Jahr, bei den deutsch-britischen Verhandlungen 1890 um den Tausch der Besitzrechte an den Inseln Helgoland und Sansibar, dafür sorgen, daß die Zugehörigkeit des Kilimandscharo-Gebietes zum deutschen Kolonialterritorium nicht mehr in Zweifel gezogen wird. Hans Meyers symbolische Inbesitznahme des Berges hatte also selbst das geographische Faktum geschaffen, das sie nur zu berichten vorgab.

Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die Ansprüche deutscher und britischer Kilimandscharo-Bemühungen durchaus unentschieden. Das Problem des neuen, rekordsüchtigen geographischen Wetteifers war ja gerade, daß keiner der einmal erzielten Erfolge auf Dauer Bestand haben konnte oder vor Nachahmern geschützt war. Erst die hinterlassenen Spuren: die dem Gipfel aufgepflanzten Farben des Reiches und der unter Zeugen verliehene neue Name des Berges, sicherten Meyer einen gewissen Urheberschutz für seine Eroberung und dem deutschen Reich den Gebietsanspruch auf dieses ostafrikanische Gebirgsmassiv. Zudem konnte man sich mit dem „Umweg“ in die Höhe noch am ehesten über den kolonialen Charakter derartiger geographischen Expeditionen hinwegtäuschen. Unter den elementaren Arbeitslügen des Kolonialismus war schließlich keine so wertvoll wie die Illusion, zuerst gekommen zu sein, in noch unbesiedelte, menschenleere Gebiete auch wenn sie de facto ihren derzeitigen Bewohnern erst weggenommen werden mußten.

Auf dem einsamen Gipfel des Kibo konnte Meyer Forschungs- und Kolonialprojekt zwanglos zur Deckung bringen. Nach erfolgtem Aufstieg belohnte der Rundblick den Forscher mit einer grenzenlosen Totale der neudeutschen Ländereien. Zwar blieb die Sicht trübe, wie in solchen Höhen nicht anders zu erwarten war, aber desto erhabener gerierten sich die von ihr geweckten Empfindungen. „Auch bei klarem Wetter“, erklärt Meyer, „ist das Panorama vom Kibo durchaus keine ’schöne Aussicht‘. Die Höhe ist viel zu kolossal, die horizontale Entfernung des breit auslegenden Basisgebirges viel zu groß, als daß man in dem von heißer Luft flimmernden Unterland der Steppen etwas recht deutlich sehen könnte. […] Beim Rundblick vom Kibo hat man jedoch ein seltsames souveränes Gefühl in dem Gedanken, von Afrikas höchster Bergspitze ein Gebiet überschauen zu können, das halb so groß ist wie das Deutsche Reich. Das ist freilich auch nur eine Illusion, da natürlich keine Sehkraft so weit reicht, aber sie ist gewiß nicht weniger wert als eine schöne Aussicht.“ (Meyer 1928, 46) Schon einer seiner Vorgänger, der junge Otto Kersten, der mit Baron von der Decken in den sechziger Jahren am Kilimandscharo unterwegs war, hatte gewarnt: „Derartige Aussichten aber von so hoch gelegenen Punkten sind immer eine unsichere Sache und gewähren in den meisten Fällen durchaus nicht die Vortheile, welche man nach soviel Anstrengung zu erwarten berechtigt ist.“ Dies dämpfe den Drang zu den Gipfeln freilich nicht im geringsten, denn, so der hellsichtige Kersten weiter, „man besteigt ja die großen Berge hauptsächlich deshalb, um sie bestiegen zu haben.“ (Kersten 1871, 56)

Damit bleibt, wie bei allen Reisen, als wichtigstes Beweisziel das Dort-gewesen-Sein. Und der Versuch, wenigstens in symbolischer Form das Objekt des Begehrens und damit auch die vollbrachte Leistung nach Hause nehmen und dokumentieren zu können. Im Falle Meyers und seiner Kaiser-Wilhelm-Spitze war dieser Wunsch mit einer staatstragenden Geste der besonderen Art verbunden. Denn nach seiner Rückkehr wurde Meyer vom Namensgeber des höchsten afrikanischen Gipfels persönlich empfangen. Zur Erinnerung an das Gipfelerlebnis des 6. Oktober 1889 überreichte Meyer dem Kaiser eine Gesteinsprobe von der Mittelspitze über dem Kraterrand des Kibo, den „höchsten Punkt deutscher und afrikanischer Erde“. Diese dunkel schimmernden Steine wurden als dekorativer Wandschmuck im Grottensaal des Potsdamer Marmorpalais eingesetzt. Ein Stück afrikanischen Lavagesteins funkelte nun im Herzen Preußens, während auf dem zentralafrikanischen Hochland noch eine Weile der schwarz-weiß-rote Wimpel flatterte. Die Farben des Kaiserreichs sind längst verweht, doch das Gestein vom Kilimandscharo ist in Potsdam heute noch zu besichtigen, wenngleich nicht mehr in den originalen, dem Kaiser seinerzeit überbrachten Stücken. Mit dem Abtranport des afrikanischen Beutegesteins aber leistete Hans Meyer selbst einen bescheidenen Beitrag zum ideologischen Rückbau der Kaiser-Wilhelm-Spitze. Nach wiederholten Neuvermessungen der letzten Jahrzehnte ist der Kilimandscharo längst kein Sechstausender mehr.

 


Literatur

Bindseil, R. (1992): Hans Meyer (1858-1929). Verleger, Geograph, Afrikaforscher, Erstbesteiger des Kilimandscharo, Ruanda-Reisender des Jahres 1911. Bonn.

Honold, Alexander (1999): Flüsse, Berge, Eisenbahnen: Szenarien geographischer Bemächtigung. In: Alexander Honold, Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Beiheft 2 der Zeitschrift für Germanistik. N.F. (1999), S. 149-174

Ders: (2000): Zum Kilimandjaro! Über die Faszination exotischer Berge und die Stationen ihrer Entzauberung. In: Tourismus-Journal (2000) Heft 4, S. 519-537

Johnston, H. H. (1886): The Kilima-Njaro Expedition. A record of scientific exploration in Eastern Equatorial Africa. London.

Kersten, O. (1871): Baron Carl Claus von der Decken’s Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1859 bis 1865. Hrsg. im Auftrage der Mutter des Reisenden Fürstin Adelheid von Pless. Erzählender Theil. Zweiter Band: Baron Carl Claus von der Decken’s Reisen in Ost-Afrika in den Jahren 1862 bis 1865. Nebst Darstellung von R[ichard] Brenners und Th[eodor] Kinzelbach’s Reisen zur Feststellung des Schicksals der Verschollenen, 1866 und 1867. Bearbeitet von Otto Kersten. Leipzig und Heidelberg.

Krapf, J. L. (1858): Reise in Ostafrika 1837-1855. Unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1858 hrsg. von Hanno Beck. 2 Bde., Stuttgart 1964.

Meyer, H. (1888): Zum Schneedom des Kilimandscharo. 40 Photographien aus Deutsch-Ostafrika mit Text. Berlin.

Meyer, Hans (1928): Hochtouren im tropischen Afrika. Leipzig.

Nicolson, M. H. (1959): Mountain Gloom and Montain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite. New York.

Thomson, J. (1885): Durch Massai-Land. Forschungsreise in Ostafrika zu den Schneebergen und wilden Stämmen zwischen dem Kilima-Ndjaro und Victoria-Njansa in den Jahren 1883 und 1884. Aus dem Englischen von W. von Freeden. Leipzig.